„Wenn der Stern leuchtet, flattert der Adler“

■ Walter Jens, Tübinger Rhetorik-Professor, über den sprachlichen wie spielerischen Hau-ruck-Stil des DFB, gesamtdeutschen Jubel, Daimler als Symbol und einschläfernde TV-Reporter in Italien

Frage: Herr Jens, Sie haben in Ihrem Heimatblatt kundgetan, die Weltmeisterschaft zu boykottieren. Was ist denn Schlimmes passiert?

Walter Jens: Ach wissen Sie, ich erinnere mich da an die Geschichte von Tucholsky: der Pfarrer geht ins Bordell und sagt beim Herauskommen, da langweile ich mich lieber in der Kirche. Wenn die Alten Herren von Tübingen gegen Gomaringen kicken, ist das unendlich viel spannender als Schottland Brasilien.

Geben Sie's zu, Sie haben also doch ferngeguckt?

Ich gestehe, die Katze läßt das Mausen nicht, aber die Begeisterung ist seit dem Spiel der Bundesrepublik gegen Österreich, 1982 in Gijon, endgültig dahin.

Da wird auch der Kaugummi-Modus der WM eine Rolle spielen.

Ich träume manchmal davon, daß künftig acht Gruppen installiert werden, die ein Jahr vorher in Costa Rica oder in Kamerun oder in Ägypten, wo immer, verteilt über die Welt, gegeneinander spielen. Die Endrunde könnte dann von mir aus in einem anderen Land stattfinden. Ich finde es ungeheuer wichtig, daß Fußball heute auch in der Dritten Welt das Ansehen gewinnt, das ihm gebührt, das die wackeren Kicker aus Costa Rica, Kamerun und Äypten mobilisiert.

Was fehlt Ihnen denn bei der DFB-Elf?

Ihr fehlen Witz, Artikulationskunst, Intelligenz und Improvisationskraft, die sich auf dem Spielfeld niederschlagen. Mir fehlen intelligente Spielerpersönlichkeiten, die Widerborstigen und Eigenwilligen, wie es Overath, Mrosko, Lienen waren. In Italien sind graue Angestellte, brav, angepaßt, wacker, redlich. Spieler, die sich bemühen, nur kein Wort gegen den großen Franz und den noch größeren Hermann (Neuberger; d.R.) zu sagen.

Beckenbauer galt doch einst als Individualist. Und nun behaupten sie, er habe eine Truppe von biederen Angestellten.

Beckenbauer stammt aus einer Zeit, in der der Individualist höher im Ansehen stand. Das ist heute nicht mehr gefordert und deshalb pocht er auf stromlinienförmige Darbietung, das zeichnet ja auch seine Verlautbarungen aus. Wenn ich mir anhöre, was er und der Deutsche Fußballbund heute verlautbaren lassen, dann scheinen mir die berühmten Kommuniques der Politiker geradezu von frischer Brisanz erfüllt zu sein. Was der Deutsche Fußballbund verlautbaren läßt, ist der Inbegriff einer Sprache, die aus Lehrformeln, vorgestanzten Sätzen und aus Worthülsen besteht.

Die Analogie zur regierenden Politik liegt auf der Hand?

Das kann man generell sagen. Die Fußballer spielen wie Helmut Kohl regiert und Gerhard Mayer-Vorfelder spricht. Hau -ruck, keine Umwe ge bitte sehr, Hauptsache, die Kasse stimmt und wir sind die Größten.

Hermann Neuberger hat seine Mannschaft nach dem zweiten Vorrundenspiel so charakterisiert: „Sie ist mit dem festen Willen auf den Platz gegangen, ein Bombenspiel hinzulegen. Wir sind dann stark, wenn wir vorwärts marschieren.“

Das ist der Hau-ruck-Stil, den ich meine. Kick and rush in der Sprache. Nach vorne losgeschlagen, umgesäbelt, ohne Rücksicht auf Verluste. Wir kommen zum Ziel.

Aber die DFB-Elf ist doch nicht mehr nur Kampfmaschine, sie beeindruckt auch spielerisch.

Da habe ich wenig bemerkt. Seit drei Jahren und elf Monaten kickt die Mannschaft ziemlich dürftig. Kein Vergleich mit der Breslauer Wunderelf oder der Elf von Spiez.

Ein anderer Experte wird Ihnen hier heftig widersprechen: Bundeskanzler Helmut Kohl. Er sieht bereits das Finale Deutschland - Italien und wird dann selbstverständlich dabeisein.

Das finde ich richtig. Ich wünsche ihm als einem humanen Lenker eines großen Staatswesens von Herzen ein Endspiel Kamerun gegen Costa Rica.

Stellen Sie sich vor, Helmut Kohl bringt neben der Deutschen Mark auch noch den Titel mit in die deutsch -deutsche Vereinigung ein.

DM und Weltmeistertitel zusammen ergeben eine nicht kleine Macht. Aber ich denke an den alten Tennismeister Gottfried von Cramm, der, wenn sein Gegner durch einen Schiedsrichter benachteiligt war, auch dann den Ball ins Aus schluß, wenn er dadurch des Titels verlustig ging. Man kann auch, so idealistisch das klingt, die öffentliche Meinung in aller Welt durch Fairneß gewinnen. Das Klima ist gar nicht so schlecht, siehe die berechtigten Attacken gegen die Gotteshand des großen Maradona.

Sie fürchten keinen neuen deutschen Chauvinismus?

Eigentlich nicht. Da traue ich unserem Volk mehr Souveränität zu als manch einer denkt. Ich fürchte mich eher vor einer Niederlage, die möglicherweise als nicht korrekt aufgefaßt wird. Da sehe ich eher die Gefahr aufgeschlitzter Reifen und des Ausbruchs des Volkszorns. Im übrigen: sehr viel schlimmer, als die Deutschen im Vollgefühl ihrer ökonomischen Überlegenheit in der DDR auftreten, könnten sie auch nach Erringung des Weltmeistertitels nicht reagieren.

Auf den Trikots des bundesdeutschen Teams prangt seit kurzem das Symbol der ökonomischen überlegenheit neben dem Bundesadler: der Daimler-Stern. Wie finden Sie das?

Ich finde eine solche Signifikanz beruhigend, weil ehrlich. Das Bild verschleiert nichts. Es werden unter nationaler Regie, ein bißchen Nationalismus ist auch dabei, Geschäfte getätigt, die wahrscheinlich werbewirksamer sind als ein gesponsortes Symphoniekonzert in Ludwigsburg.

Jetzt spricht der Pragmatiker Jens.

Es gibt bei uns eine politische, aber keine wirtschaftliche Demokratie. Deshalb ist es ganz richtig und konsequent, wenn zum Adler der Stern kommt. Wenn der Stern leuchtet, dann flattert auch der Adler.

Lassen Sie uns zum Fernsehen kommen. Als „Momos“ haben Sie 20 Jahre lang professionell zugeschaut. 1972 haben Sie bereits beklagt, daß die größte Leistung der Zuschauer sei, die Leistungen der Reporter überlebt zu haben. Wir haben den Eindruck, die Zeit ist stillgestanden.

Heute ist es noch einschläfernder als damals. Wobei man einschränkend feststellen muß, daß die ARD- und ZDF-Reporter immer noch wie Goethe und Schiller sprechen, verglichen mit den RTL-Kommentatoren, die nichts weiter als forsch und töricht sind. Aber insgesamt ist es ein Trauerspiel. Blindes und ein bißchen tumbes Jubeln auf der einen Seite, Langeweile, Gähnen auf der anderen.

Aber die Jungs rackern sich doch nach Kräften ab. Spitzen -Moderator Heribert Faßbender hängt sich jeden Tag drei Minuten an der Sprossenwand kopfunters auf, um sein Gehirn gut durchbluten zu lassen.

Ich würde ihm raten, die drei Minuten mit einigen Gedichten von Heinrich Heine oder ein paar Sätzen von Kurt Tucholsky zu verbringen. Dies würde sein Gehirn wahrscheinlich entschieden wirksamer auflockern.

Sie machen uns wenig Hoffnung.

Angestellte auf dem Rasen, Angestellte in den Funkhäusern, die BAT-Mentalität triumphiert. Wo bleiben die Frauen? Warum kann nicht die Torfrau des deutschen Fußballmeisters Kommentatorin sein? Wo bleiben Witz, Ironie und Satire, Selbstironie, die Fontane als die menschlichste Eigenschaft nannte?

Allerletzte Frage, Herr Jens. Sie sagten einmal: auch wenn ich den letzten Goethe-Vers vergessen habe, kann ich immer noch die Sturmformation des Eimsbütteler TV der Dreißiger Jahre aufsagen. Auf die Plätze, fertig, los.

Ahlers, Panse, Rohwedder, Muhr und Maack.

Das Interview führte Josef-Otto Freudenreich für die 'Stuttgarter Zeitung‘, wo es heute erscheint - danke!