Symptome einer Krankheit

Das PostDDR-Syndrom oder die verfaulte Vernunft  ■ K U R Z E S S A Y

1. Ich weiß gar nicht, womit ich anfangen soll. Überall dieses PostDDR-Syndrom, eine Krankheit, die nicht einfach als Verdrängungssucht beschrieben werden kann. Das Bedürfnis einer Minderheit, sich immer als unterdrückte Minderheit fühlen zu müssen. Man ist eines Themas müde (DDR -Vergangenheit), bevor dessen Aufarbeitung überhaupt begonnen hat. Manchmal tritt dieses Syndrom unverschämt und pur zutage: Da will doch ein redlicher, in Realpolitik ungeübter Stadtrat für Inneres (Krüger, einer der Oppositionellen, die sich früher nicht nur mit dem Staat, sondern bei Bedarf auch mit der harmoniesüchtigen Kirche anlegten, ein virulenter Unruhestifter in Person, ein Kindskopf natürlich, ein glatter Selbstmörder, der es wirklich einmal ernst meint mit dem Entstalinisieren), neue Köpfe, Ideen und Gedanken in den Magistrat von Berlin hineindrängeln. Nötig hätte der es - ich denke an die Abteilung Volksbildung, in die ich mich einmal wissentlich verirrte, als ich um Unterstützung gegen meinen Rausschmiß aus politischen Gründen von der Jenaer Uni bitten zu können glaubte. Ich denke an jenen Wächter über die Steuernummern, und seinen Versuch, meine zu löschen, anderen wurde der fast legale Status gar nicht erst gewährt. Bürokraten gibt es überall, nur handelten diese im Auftrag einer Macht, derer man eben auf fatale Weise total ausgeliefert war (soweit man sich nicht westöffentlich wehren konnte). Dabei hatte ich mit dem Magistratsangestellten für Kultur nur einmal beiläufig zu tun, da können andere detaillierte Verbotslieder singen.

Natürlich hatten alle ihre Weisungen und versuchten, das Beste zu glauben. Und da wir kein neues Beamtenvolk zur Verfügung haben, werden viele von ihnen im Amt bleiben. Gibt es eine fairere Methode, als alle Verträge ab einer gewissen Gehaltsstufe (und damit einer bestimmten Verantwortung) zu kündigen, die Stellen öffentlich neu auszuschreiben und die Gekündigten zu bitten, sich mitzubewerben. Aber die Täter und Mitläufer von einst haben rasch gelernt. Die, die jeden Lehrer sofort aus dem Schuldienst geschmissen hätten, wenn er nur das Wort „Streik“ in den Mund genommen hätte, wissen ihre neuen Rechte gut zu gebrauchen. In Ordnung. Sie haben ja ein Ziel vor den Augen: richtige deutsche Beamte zu werden. Da lassen sie sich doch von ein paar linken Spinnern nicht hinausdrängen. Die meisten wären auch sicher bereit, in jede Partei einzutreten, man müßte ihnen nur sagen, in welche. Mit Ostmentalität in die Westzukunft - herausholen aus dem Staat, was rauszuholen ist. Den sicheren Arbeitsplatz, die dicke Beamtenrente.

Das alles wäre noch normal zu nennen. Gespenstisch ist die Reaktion der (versehentlich) mit gekündigten Künstler. Und jene der Presse, der DDR-Presse, die kritische Berichterstattung mit Kumpanei verwechselt. Da der eigene Arbeitsplatz irgendwie auch in Gefahr ist, zeigt man sich vorbeugend solidarisch mit jedem, dessen Arbeitsplatz in Gefahr ist. Und die ÖTV protestiert auch - schlimm, daß intelligente und damit handlungsfähige Gewerkschaften fehlen. Auch da erweist sich der DDR-Bestand als miserabel: auf Westselbstbewußtsein getrimmte ehemalige DDR -Gewerkschaftsfunktionäre. Dazu ein anderes Mal.

2. Dann die Christa-Wolf-Debatte, eine wichtige Diskussion auf hohem Niveau. Um jedem Mißverständnis vorzubeugen: Christa Wolf hat es verdient, daß seitenlang in 'FAZ‘, 'FR‘, 'Zeit‘, 'Welt‘ und taz über sie diskutiert, gestritten wird. Wer das für eine Kampagne hält - zum Beispiel Kommentatoren von DDR-Zeitungen - verwechselt die einstigen Methoden seiner Berufsausübung mit denen von Frank Schirrmacher ('FAZ‘) oder Arno Widmann (taz). Kein Geheimdienst der Welt könnte den einen zwingen, einen seitenlangen Artikel des anderen abzudrucken - das schafft nur die Kraft der Argumente, die den einen eben am anderen überzeugen. Bei der Verteidigung von Christa Wolf geht es nicht mehr um Christa Wolf. Hier fühlen einige mit der Autorität einer Autorin das Prinzip Autorität schlechthin (und mithin ihre eigene) angegriffen. Als dürften immer nur die gleichen Leute über dieselben Probleme sprechen. Auch sympathische Leute flößen mir mitunter Angst ein. Wolfgang Ullmann (Demokratie Jetzt) verteidigte am 16.6. Christa Wolf mit dem Argument, sie würde von Schriftstellern attackiert, „die ihr nicht im mindesten das Wasser reichen können“. So weicht man dem literarischen Streit aus, führt scheinbar feststehende Ergebnisse als Autoritätsbeweis vor. Was beweisen sie dann? Nur von der Kritik geschätzte Autoren dürfen sich über von der Kritik geschätzte Autoren äußern? Nur Juristen über Gesetze? Verfassungsrichter über Verfassungen? Nein, so sollte es nicht gemeint sein. So pur auf eine ewig währende geistige Elite bezogen, die als Rat der Götter die Geschicke des Staates lenken, wollte es nur Bahro auf jener Versammlung, bei der auch Ullmann sprach. Und doch ist auch schon sein Argument antidemokratisch, Neugier in die Bahnen der gewohnten Betrachtung verweisend. Dazu ein anderes Mal mehr. Nur: Wundert es wirklich jemanden, wenn die Linke bei solchen Anlässen unter sich bleibt?

3. Einige nehmen sich entschieden zu wichtig - und dies führt zu anmaßenden, andere bevormundenden Urteilen. Die taz -Redaktion (DDR) überschätzte den Einfluß der taz maßlos und damit auch die angeblichen Gefahren bei einer Veröffentlichung der Stasi-Adressen. Ich habe es bei Telefonfreunden getestet - 90 Prozent haben außerhalb von Berlin die Veröffentlichung der ersten Adressen gar nicht mitgekriegt. Keiner war dagegen. Es wird nicht „Mord und Totschlag“ geben, aber ein paar interessante Hinweise für die lokale Presse, die neue Verwicklungen, Verstrickungen aufspüren. In der Verhinderung der Veröffentlichung zeigt sich die Fortsetzung einer Kolonisierung der DDR-Leser durch eine entmündigende Ideologie. Es geht nicht nur um die Angst vor Folgen (wer untersucht eigentlich einmal die Streitereien der letzten Monate, die daraus entstanden, daß sich Leute grundlos verdächtigten - diese Liste entlastet vielleicht mehr Leute, als sie belastet), es geht um die selbstgerechte, zutiefst DDR-verinnerlichte Haltung, daß man wissen könne, was dem Volk zuzumuten wäre. Was sinnvoll und sinnlos ist. Was vernünftig ist.

Diese Art von verfaulter Vernunft hat dieses Land zugrunde gerichtet. Es war immer unvernünftig und sinnlos, Widerstand zu leisten. Wie oft mußte ich das Argument hören, daß das doch alles keinen Zweck habe. Genau darauf kommt es an: eine Neugier zu entwickeln, die auch ohne Kenntnisse eines lohnenden Zwecks funktioniert. Aus moralischer Eigenverantwortung, unerbittlichem Aufhellungszwang, vielleicht auch nur aus kindlichem Spieltrieb im Zweifel immer die Öffentlichkeit suchen. Liebe Bärbel Bohley, damit händigt man dann dem BND nicht das Material aus (das er ohnehin schon hat, der KGB und andere sicher auch), man macht es für Geheimdienste unbrauchbar. Aber zu dem ständigen Vergleich zwischen Verfassungsschutz und MfS auch ein anderes Mal. Das Rätsel von dem Machtkonglomerat MfS/SED (KGB) ist noch nicht gelöst, die Frage, was die DDR eigentlich war, längst nicht beantwortet. Die interessierte Öffentlichkeit zur Mit-Erforschung einzuladen ist gut.

4. Eigentlich hätte ich Grund, auf die West-taz zu schimpfen. Da wollte doch der Arno Widmann bei meinem Fernsehfilm Zärtlich kreiste die Faust ein Bügeleisen in den Fernseher werfen. Findet meinen Text nicht schlecht, die Stimme aber unerträglich arrogant. (Mich hat sie an eine Erkältung erinnert, die auf das Formulieren der Sätze unüberhörbar einwirkte.) Die DDR-taz druckte jene Besprechung nicht nach, vielleicht sogar aus wohlwollender Rücksicht, trotzdem ist mir der provozierende Westblick lieber, diese Schonungslosigkeit behandelt einen gleichberechtigt. Ein Schlüsselsatz aus Arno Widmanns Bemerkungen zu Christa Wolf: „Die Beseitigung der DDR ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer menschlicheren Gesellschaft auf deutschem Boden.“ Mit solchem Ansatz ist einer/eine in jeglicher Berliner Diskussion hoffnungslos isoliert. Während die Mehrheit im Lande sie dermaßen als Selbstverständlichkeit verinnerlicht hat, daß sie zur Selbstzufriedenheit verführt. Diese Diskrepanz ist die eigentliche Gefahr, der Keim für künftige gewaltsame Auseinandersetzungen.

Lutz Rathenow

Der Autor lebt als freier Schriftsteller in Ost-Berlin. Jahrelang hatte er Reise- und Publikationsverbot.