Bei Doktor Vogel im Kiez

■ Die Schönstedtstraße ist auch für die Hauptstadt Berlin / Ein Besuch am Samstag vor Ort in Rixdorf beim Straßenfest des „Bürgerbüros Dr. Hans-Jochen Vogel“ / „Berlin, Berlin, dein Herz kennt keine Mauern...“

Neukölln. Blutüberströmt an Schläfen und Hals liegt das Häufchen Mensch unter einem Autokühler auf dem Kopfsteinpflaster der Schönstedtstraße - und keiner guckt hin. Über die Szenerie hallen unermüdlich Heimatbeschwörungen: „Berlin, Berlin, dein Herz kennt keine Mauern...“ Unbekümmert schaufeln derweil nette Sozi-Frauen Selbstgebackenes auf Papptellerchen. Ja, nicht einmal der nette Doktor Vogel, dessen hier ansässiges Bürgerbüro bis zum heutigen Samstag exakt 31.563 anderen Personen zu Hilfe kam, widmet der gräuslich mit Marmelade zugerichteten Unfallopferpuppe auch nur einen Blick. Und dabei starb sie doch auf anrührende Weise für Tempo 30.

Frau Vogel räumt aus

Noch schrecklichere Anblicke dreieinhalb Schritte weiter: die „Vogel-Souvenirs“ verkundet ein Schild am Nachbarstand. Umrahmt von malerischen Bildern schwarzafrikanischer Frauen haben Mitglieder der Parteibasis Zinnteller und Bierkrüge aus allen deutschen Landen aufgebaut. Präsente, die der Doktor Vogel in drei Jahrzehnten Wahlkampfdasein in allen Himmelsrichtungen des Vaterlands überreicht bekam. Alle tragen Wappen, Ortsnamen und Grußworte und sollen nun zum „Liebhaberpreis“ (Frau Vogel) unters Rixdorfer Volk gebracht werden, weil sie in der heimischen Voliere der so reichlich Beschenkten einfach keinen Platz mehr finden. Den Anfang macht das schönste Stück der Kollektion, ein Bierkrug mit Zinndeckel und dem Antlitz von Altkanzler Schmidt, den Frau Vogel und ein Conferencier gerade auf der Bühne „für besonders arme Frauen in besonders armen Ländern“ amerikanisch versteigern.

Genossin Lea übernimmt

die Oberlehrerrolle

Dann geht's von der bildenden Kunst zur Kultur an sich. Rote Ikeastühle werden auf der Bühne aufgeklappt, es erscheinen Lea Rosh (goldene chühchen und Bluejeans), Tino Schwierzina (sandfarbene Popelinejacke), Kultursenatorin Anke Martiny (schick im weißen Hosenanzug), der Doktor selbst (dunkler Anzug), Kulturschaffende, der Senatsoberbeamte Schröder und als Opposition die nette AL-Politikerin Hilde Schramm. Begeistert gröhlen gut eingetrunkene AnwohnerInnen, die sich schon früh die besten Plätze an den Biertischen gesichert haben. Sie kriegen aber gleich von Frau Rosh einen Verweis, daß man so gar nicht erst losdiskutieren werde. Das wirkt.

Der Doktor Vogel - hier braucht er mal nicht Oberlehrer sein, hier springt Freundin Lea ein - erklärt dem sodann braven Publikum, warum Berlin Hauptstadt sein muß. Der Herr Schwierzina neben ihm ist auch unbedingt dafür, die ganze Schönstedtstraße sowieso, Frau Martiny erst recht - und alle anderen auf den Ikeastühlen auch.

Frau Schramm stört

Auch Frau Schramm, aber die will sie „nicht zu protzig“, die Hauptstadt. An ihr zeigt sich aber auch das Risiko, wenn man Andersdenkende auf sozialdemokratischen Festen mitreden läßt: plötzlich enthüllt die Alternative kurz ihr wahres, böses Gesicht und sagt, man dürfe den Potsdamer Platz nicht so einfach an Daimler-Benz wegschenken. Aber Frau Rosh umschifft die Peinlichkeit professionell und fährt Frau Schramm mißbilligend an: „Wir diskutieren jetzt nicht den Potsdamer Platz.“ Gerade noch einmal an einem Eintrag im Klassenbuch vorbeigekommen, nimmt sich die dann auch prompt verschämt zusammen. Weiter geht's mit der Hauptstadt. Ein Anwohner, der vorher nur durch gelegentliche „Wir sind das Volk„-Rufe auffiel, unterbricht frech den Doktor Vogel, der gerade über den Umzug der Ministerien nach der Hauptstadt doziert: „Was ist mit Kindern, die keine Wohnung haben?“ Da kontert tadelnd Doktor Vogel: „Die werden doch nicht in Ministerien wohnen wollen. Das ist doch kein Zusammenhang.“ Das leuchtet an den Biertischen ein, der Zwischenrufer erhält tadelnde Blicke.

Frau Martiny appelliert

an die Schönstedtsträßler

Nun wird's richtig hauptstadt-kulturell. Nein, auch die Schönstedtstraße ist dagegen, daß unsere drei Opernhäuser gleichzeitig die Zauberflöte spielen, wie Frau Martiny beklagt. Ja, und fast alle sind sofort bereit, als sie von Frau Martiny kämpferisch zur Solidarität mit Künstlern und Wissenschaftlern aufgerufen werden, weil die jetzt am Wichtigsten sind und es am Schwersten haben. Auf die Schönstedtstraße kann die Frau Senatorin rechnen. Bloß ein kleiner Türkenjunge mit einem blauen Luftballon der Europäischen Gemeinschaft fällt vor Schreck in eine Pfütze und muß heulend herausgezogen werden.

Die Koreanerinnen kommen

Endlich erscheint die für die Hauptstadt so lebenswichtige Kultur in Form von fünf beständig lieb lächelnden und zugleich tanzenden Damen vom Koreanischen Krankenschwesternverein. Dezentrale und multikulturelle Stadtteilkultur vom Feinsten - und Frau Kultursenatorin ist schon wieder weg! Macht aber nix, denn was asiatische Frauen angeht, dies beweisen eindringlich „Uuis“ und Aahs“ am vorderen Biertisch, ist manches Neuköllner Mannbild gerne noch begeisterter multikulturell als Anke und die AL. Ein besonders lobendes Statement, das dem Urheber aber von der kräftig gebauten besseren Hälfte einen Rippenstoß einbringt, soll hier dennoch nicht zitiert werden. Unergründlich bleibt auch mitten im Fächertanz die Parole „Mandela, Prost“ nebst begleitendem Rülpser aus dem Publikum.

Didi macht den Doktor

Vogel glücklich

Unter „Didi„-Rufen betritt nun nicht Hallervorden, sondern Hildebrandt die Bühne, beschimpft kurz ein paar Rumgröhler, und wärmt dann die Stimmung mit dem Bekenntnis auf, daß er sich an Wahltagen stets betrinke. Dies und die Tatsache, daß er eigens der Schönstedtstraße zuliebe aus dem römischen WM -Trubel eingeflogen sei, sorgen für Dankbarkeit und Harmonie. Gerne lacht man dafür sogar über die dumme Bild -Zeitung. Und dann wird es immer noch harmonischer. So sehr, daß nun der CDU-Politiker vor Schreck über soviel Ein-Volk -Stimmung gleich noch zwei Zacken schärfer berlinert oder hilflos die Heimreise sämtlicher Ausländer gefordert hätte. Denn der Hildebrandt erinnert an unser aller sozialdemokratische Vergangenheit - an den großen Onkel Herbert. Da klatschen kräftige Neuköllner Pranken wie toll auf kurzbehoste Schenkel, Sozis mit Parteibuttons lächeln stolz und verklärt und sogar der Doktor Vogel zeigt trotz aller Bonner Sorgen enlich einmal die Zähne und nickte immer wieder zustimmend, wenn der imitierte Onkel Herbert gar zu echt in Richtung Karl-Marx-Straße bellte.

Thomas Kuppinger