Die ganze Bandbreite Kreuzberger Seins

■ 32 Mannschaften der Kreuzberger Szene kickten beim 2. Kiez-Fußballturnier recht unbeholfen um den Franz-Kartsch-Wanderpokal / Die autonomen Fußballer gaben Gastgeber SPD einen Korb

Kreuzberg. „Jetzt spielt der Verein SO36 oder das, was noch von ihm übrig ist“, bemerkt Volker Hegemann, Stürmer vom „Schlesischen Dorf“ mit einem abschätzigen Blick auf die Blauhemden, die sich auf dem sonnengefleckten Hallenboden den Ball zuschubsen. „Wenn wir nachher gegen die nicht gewinnen, können wir gleich einpacken. Nur, wer schießt das Tor?“

32 Mannschaften aus Kreuzberg hatten sich für das zweite Kiez-Fußballturnier der hiesigen SPD gemeldet. „Die ganze Bandbreite Kreuzberger Seins - von autonom angehauchten Kickern bis zum akademischen Überbau, den Planern der STERN“ wurde angekündigt. Sogleich erscheint deren Koordinator Theo Winters, triumphierend auf die Punktetabelle deutend: „Die waren noch schlechter als wir“, sagt er und meint die Mannschaft der SPD, die gleich zu Anfang rausflog. Selbiges Schicksal ereilte auch seine STERN-Mannschaft. Doch der potentielle nächste Gegner, nämlich „Backstein e.V.“ mit Manne Wetzel im Sturm, war ohnehin nicht angetreten. Besetzen die Autonomen gerade ein Haus am Prenzlauer Berg? Lediglich ein schwarzgekleideter Mann mit Irokesenschnitt bewegt sich zwischen den Fronten und trifft autonome Entscheidungen.

Dafür tänzelt „Bigfoot e.V.“ aufs Feld, eine Mannschaft aus türkischen Jugendlichen. „Was, gegen die Kleenen habt ihr verloren?“, lästert eine Frau aus dem umfangreichen Fantroß vom „Schlesischen Dorf“. „Die sind zwar nur halb so groß wie wir, aber auch nur halb so alt“, kontert Hegemann. Das „Schlesische Dorf“ entpuppt sich als Tarnliste des Berliner Mietervereins und der Setzerei Compress aus der Schlesischen Straße. „Eigentlich sind wir eine Joggingtruppe“, erklärt Dorf-Trainer Hermann Behlau. „Wir können toll laufen, nur mit dem Schießen hapert es.“ „Bei mir ist es umgekehrt“, beteuert Jürgen Guttmann von STERN. „Darum stehe ich im Tor.“

Das ganze Wochenende lang spielen die Freizeit-Kicker um den Franz-Kartsch-Wanderpokal in der Flatow-Halle auf der Lohmühleninsel. Neben dem Bier, den Buletten und den Hanutawaffeln liegt eine Liste, auf der man unterschreiben darf, daß Berlin wieder Hauptstadt werden soll. Fast niemand unterschreibt, außer der SPD-Mannschaft, aber die haben ja auch - erinnern wir uns - seinerzeit für die Kriegskredite gestimmt.

Ebenfalls schlecht steht es um die Titelverteidiger von Dynamo Endstadium. Schon am Samstag abend führen die Franziskaner, eine Kneipenbesetzung, die Hausmannschaft Garfields und FC Bigfoot, die Türkenkids.

Nach der Schlappe gegen den FC Bigfoot spielt das „Schlesische Dorf“ gegen den Verein SO36, die Kreuzberger Mieterberatung. Dessen Mannschaft ist kläglich geschrumpft und lieh sich Spieler wie Wolfgang Wüntsch von der Hausbesitzerberatung BSM. Das haben die also nötig! Schiedsrichter Jesus vom Besetzereck pfeift an. Hegemann hat Anstoß, trifft beim dritten Versuch den Ball, und die Welle rollt auf das Vereinstor zu. Und wieder zurück. Und wieder vor, die zwei mal sieben Leute tänzeln um den Ball und zeigen gymnastische Meisterleistungen und da: ein Tor! Für das Schlesische Dorf! „Das war mein Pappi“, schreit ein Kind aus dem Fantroß. „Nein, meiner!“

Das Spiel wird jetzt einen Zacken schärfer. Hegemann drängt zum Tor, wird mehrmals niedergetrampelt, während Dorf -Torwart Klaus Kießling - Ehemann unserer verehrten Ex-taz -Kollegin Doro - sich tapfer in verschiedene Richtungen wirft und dabei zusehends Pfunde verliert. „Der Volker liegt mehr am Boden, als daß er läuft“, sorgen sich die Fans, als Hegemann wieder niedergetreten wird. Diesmal zerbricht ihm sogar ein Brillenglas. Er taumelt zur Ersatzbank, zieht die Ersatzbrille aus der Tasche und stürzt sich todesmutig ins Getümmel - zu spät: Der Stürmer des Vereins SO36 knallt den Ball ins Tor: 1:1.

In rascher Folge - ein Spiel dauert ja nur zehn Minuten spielen die griechische Kneipenmannschaft „Alexander der Große, der Verein „Kreuzmobil“ mit den schicken Trikots: „Kreuzmobil sucht ständig Taxifahrer - Tel.: 611 56 73“, der Uralt-Verein „Halbe Lunge“, die Profis vom „FC Reichstag“, die Wirtshausmannschaft „Zum Hecker“, die „Gelben Einsen“, die unter lauten „Schalke, Schalke„-Rufen das Spielfeld entern und die zweite Mannschaft von STERN. „Die gucken wie Kaninchen, die gleich geschlachtet werden“, spottet der Verein SO36. Dabei sind sie gar nicht so schlecht: Sie kommen ab und zu aus dem eigenen Strafraum heraus und berühren sogar dreimal den Ball, verlieren seltsamerweise trotzdem 2:0 gegen den FC Reichstag.

SO36 geht anschließenend unter den höhnischen Bemerkungen der Zuschauer gegen den FC Bigfoot 3:1 baden. Ihm folgt wieder das Schlesische Dorf gegen den FC Gehirnkondom, laut Programmhaft „die Freizeitkicker Alex, Müsli, Willi und Pabst“. So wie sie spielen, sollten sie lieber „FC Wadenschützer“ heißen. „Guck mal, der Volker sieht aus wie eine geschminkte Leiche“, sagt ein Fan des Dorfes. Aber Volker Hegemann kämpft sich verbissen zum Ball durch und völlig aus Versehen steht er plötzlich ganz alleine vor dem Tor. Und schießt! Und trifft! Und bricht, währen das Publikum laut jubelt, halbtot neben der Ersatzbank zusammen.

„Weißt du“, analysiert ein Dorf-Spieler hinterher, „wenn wir besser Fußball spielen könnten, hätten wir das locker gewonnen.“

Eva Schweitzer