Etwas wie das Wetter

■ Mit dem amerikanischen Komponisten John Cage, dessen „Europeras 3 & 4“ heute abend im Westberliner Hebbel-Theater zu hören und zu sehen ist, sprach Arleen Schloss

Mehr als jeder andere lebende Komponist ist John Cage verantwortlich für die Erweiterung musikalischer Wahrnehmung. Ihm ist zu verdanken, daß der Begriff „experimentelle Musik“ inzwischen ganz selbstverständlich zum Vokabular für die Kunst des 20.Jahrhunderts gehört. Was heute normal ist, damit begann er in den 30er Jahren: jeden Gegenstand machte er zum Schlagzeug, von der Bierflasche bis zum Auto. In den 40er Jahren galt er wegen seiner Schlagzeug -Musik und seiner Stücke für präpariertes Klavier als revolutionärer Komponist. Er präparierte Klaviere, indem er alle möglichen Gegenstände zwischen die Saiten klemmte, Holzlöffel, Papier, Metall und dann die Saiten oder die Tasten bespielte. Cage ist auch berühmt für seinen Gebrauch von I Ging und von Zufallsoperationen bei seinen Kompositionen.

Ich sprach mit ihm in seiner Wohnung, einem Loft mit einer Atmosphäre von eleganter Nachdenklichkeit, in Manhattan, Chelsea. Das Arrangement seiner Grünpflanzen war wie das eines japanischen Gartens. Er war bescheiden und zugleich redselig, meine Fragen beantwortete er ruhig und zuvorkommend. Eine Aura des Zen: Im Interveiw nahm er sein Ego zurück, so wie er es auch in seiner Musik zurücknimmt.

A.S.

Arleen Schloss: Wie begreifen Sie den Klang im Verhältnis zur Musik?

John Cage: Mein erster Schritt war, musikalische Klänge und Geräusche zusammenzubringen, so daß alles, was für uns hörbar ist, auch zusammen gehört werden konnte. Ich habe begonnen mit der Vorstellung von Struktur; meine Struktur war die der Zeit - und diese war offen für Geräusche wie für musikalische Klänge.

Das klingt, als würden sie eine Art von Architektur beschreiben.

Die Struktur ist wie eine leere Stadt, die man begehen kann. Wenn sie beispielsweise Menschen begegnen wollen, können Sie das nicht nur an den Kreuzungen tun, sondern überall, auf der Straße, irgendwo im Viertel (er lacht). Heute geht es mir weniger um Strukturen, die ja immer bedeuten, ein Ganzes zu teilen, es geht mir mehr um Prozesse - etwas wie das Wetter, das weder Anfang, Mitte, noch Ende hat, sondern einfach da ist. Ich glaube, das ist wichtiger für unsere Lebenserfahrung als etwas in getrennte Einheiten zu zerlegen.

Was meinen Sie genau mit Prozess? Denken sie dabei zum Beispiel an den „Zeitgeist“ (im Original deutsch)?

Dieser deutschen Denkungsart habe ich immer ein bißchen mißtraut (er lacht). Mir ist das zu abstrakt.

Mit Ihrem Stück 4'33'', das Sie 1951 in Harvard uraufgeführt haben, versuchten sie zu zeigen, daß Schweigen ein nichtintentionaler Klang ist - und daß das pure Schweigen nicht existiert. Wie sind Sie darauf gekommen?

Mir wurde das klar, als ich in einen schalldichten Raum ging, in dem es kein Echo gibt, ein Raum, so geräuschlos wie nur möglich, ursprünglich für technische Experimente gedacht. Ich ging hinein und erwartete, nichts zu hören. Aber ich hörte einen hohen und einen tiefen Ton. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem hohen Ton um mein arbeitendes Nervensystem, und der tiefe Ton war nicht mein Herzschlag, sondern das Geräusch meines Blutkreislaufs - und ich hatte nicht die Absicht, diese Geräusche zu produzieren. Das bedeutet, daß, so still ich auch zu sein versuche, ich dennoch mindestens zwei Klänge hervorbringe, und zwar unabsichtlich. Daraus ergibt sich, daß Schweigen nicht die Abwesenheit von Klang ist, sondern das Akzeptieren von Nicht -Intentionalem.

In Ihrem Buch „Diary“ sagen Sie, daß „Chaos und Ordnung“ keine Gegensätze bilden. Gibt es einen Unterschied zwischen Zufall und Chaos?

Zufall ist nichts, was uns zufällt: Im Amerikanischen sagen wir 'we take a chance‘. Ich benutze den Zufall als Spielregel. Chaos hingegen ist vor allem für Wissenschaftler von Interesse. Sie kennen vielleicht den Butterfly-Effekt. Man studiert die Prozesse der Natur, zunächst nicht als Folge von Ursache und Wirkung. Wenn man Sie aber doch als Ursache und Wirkung begreift, dann ist die Bewegung eines Schmetterlings in China die Ursache für etwas, das auf der anderen Seite des Globus passiert. All diese Überlegungen sind wichtig bei der heutigen Chaos-Forschung. Das Chaos war übrigens schon in der chinesischen Philosophie ein wesentliches Element. Es war das Chaos, das in einem Text von Chuang-tse dreimal befragt wurde, wie die Welt zu verbessern sei. Die ersten beiden Male gab es keine Antwort. Aber beim drittenmal sagte es ungeduldig: „Wenn du die Welt verbessern willst, wirst du sie verschlechtern“. Deshalb habe ich mein Tagebuch How to improve the world you will only make matters worse genannt (Teil V von Tagebuch: Wie sich die Welt verbessern läßt (Du wirst alles nur noch schlimmer machen), ist nachzulesen in: 'Experimentelle amerikanische Prosa‘, hg. von Brigitte Scheer-Schätzler, Stuttgart 1977; d.Red.).

Glauben Sie, daß experimentelle Musik und Avantgarde-Musik zwei getrennte Kategorien in der Neuen Musik sind, oder lediglich zwei Begriffe für dieselbe Sache?

Ich glaube, sie liegen sehr nah beieinander, beinah so nah wie Chaos und Zufall (Lacht).

Sie haben viel Musik für den Tanz geschrieben. Wie war Ihre Zusammenarbeit mit Merce Cunningham?

Ich glaube, was unsere Arbeit für uns selbst interessant macht, ist, daß wir uns gegenseitig die Freiheit lassen, auf unsere eigene Art und Weise zu arbeiten.

Proben Sie zusammen?

Nein, der Tanz probt den Tanz und die Musik die Musik.

Haben Sie bei Ihrer Arbeit mit Cunningham Computermusik verwendet?

Ja, aus meinem Stück Essay. Als Ballettmusik heißt sie Voiceless Essay - Sie kennen es vielleicht. Das ist der Essay von Thoreau, mit 36 Lautsprechern aber ohne Vokale, deshalb also stimmenlos.

Es gibt nur Konsonanten, man hört also Atemgeräusche und Konsonanten. Ich dachte, dazu läßt sich gut tanzen, denn es ist wie Percussion.

Wo wir gerade über Percussion sprechen: Wie kamen sie auf das präparierte Klavier? Ich verstehe soviel, daß Sie die Saiten manipuliert , aber die Tastatur normal bespielt haben. Man nannte Sie die One-Man-Percussion-Band.

Eigentlich ist es mehr wie Gamelan-Musik. Ich kam darauf, weil ich gebeten wurde, eine Tanzmusik für Syvilla Fort zu schreiben, die ein wunderbares Ballett namens Bacchanale entwickelt hatte. Es sollte mit Percussion-Instrumenten begleitet werden, aber es gab keinen Platz für das Schlagzeug. So mußte ich den Flügel manipulieren, damit er mehr wie ein Schlagzeug-Orchester klingt.

Ihr Computerstück „Essay“ hat eigentlich einen längeren Titel.

Ja, es heißt Writings through the essay on the duty of civil disobedience of Henry David Thoreau (Komposition zum Versuch 'Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat‘ von Henry David Thoreau). Ich machte im Rahmen dieses Essays ein Mesostichon von Eric Saties Messe des Pauvres. Das Mesostichon produziert eine andere Art Sprache, eine andere Verbindung von Wörtern, als wir es gewöhnt sind.

Können Sie mir noch einmal erklären, was ein Mesostichon ist?

Das ist etwas ähnliches wie ein Akrostichon, nur daß bei einem Akrostichon die Anfangsbuchstaben senkrecht gelesen einen Sinn ergeben und bei einem Mesostichon die Buchstaben in der Mitte. Für mich ist es eine Art des Schreibens nicht über Ideen, sondern eines, das andere Ideen produziert, als die, von denen man ausging.

Dankeschön für die Auskunft. Zurück zum „Essay“. Aus wievielen Kompositionen besteht dieses Stück? Aus 18, die ersten sind lang, einige andere sind sehr kurz.

Haben sie ein spezielles Verfahren entwickelt, was Ihnen erlaubte, mit diesen verschiedenen Längen zurechtzukommen?

Mit Hilfe des Computers war es möglich, die langen Stücke durch eine Zufallsoperation auf eine bestimmte Länge zu bringen und die kurzen auf diese Länge hin zu dehnen, so daß kein Ton meiner Stimme verloren ging.

Sie haben doch auch das I Ging als eine Art Computer -Wahrsager benutzt.

Ich benutze Zahlen, um Fragen zu beantworten. Erst muß ich herausfinden, wieviele Antworten es gibt, und wenn ich diese Zahl habe, kann ich das I Ging benutzen, um die Antwort zu finden, egal wie groß die Zahl ist.

Abgesehen von ihrem innovativen Umgang mit dem I Ging und mit Computern: Haben Sie noch andere Prinzipien, die Ihren Zufallsoperationen zugrundeliegen?

Es hat immer damit zu tun, daß man genau weiß, was man fragt, und daß man es weiß in Hinsicht auf alle Antworten, die möglich sind. Mit anderen Worten: Man muß die Frage selber studieren, ihr muß die volle Aufmerksamkeit gelten. Wenn ich zum Beispiel die Frage stelle: „Ist es schwarz oder weiß?“, dann ist das eine sehr einfache Frage, denn man weiß, es gibt nur zwei Antworten: schwarz oder weiß. Wenn man aber eine komplexere Frage stellt, „Welche Farbe hat es?“, dann muß man irgendwie herausfinden, wieviele Farben es gibt, und das ist nicht leicht. Farbe ist sehr mysteriös. Auch Geschmack ist etwas sehr Mysteriöses. „Wie schmeckt das?“ (lacht) Diese Frage ist schwer, fast unmöglich zu beantworten. Das ist eine der Schwierigkeiten, wenn man ein Buch über Pilze studiert, weil der Geschmack eines Pilzes dort oft ein Mittel zu seiner Identifikation ist, auch die Farbe. Dabei sind Geschmack und Farbe fast unmöglich zu definieren.

Sie haben einmal gesagt, eine Plattenaufnahme wäre nicht mehr wert als eine Postkarte. Wie ist das Verhältnis zwischen Aufnahme und Aufführung?

Nun, die Aufnahme ist fixiert, und bei einer Aufführung weiß man nicht was passiert, bevor sie stattfindet.

Sind alle Ihre Werke aufgeführt worden?

Beinahe alle, und vielleicht ist das einer der Gründe für mich, weiter zu komponieren. Dann habe ich wieder etwas, was noch nicht aufgeführt ist.

Können Sie etwas sagen über Ihren Gebrauch bestimmter Techniken bei Ihrer neuen Oper?

Sie heißt Europeras. Das sind die Worte Europa und Oper zusammengenommen. Im Grunde setzt es die Art und Weise fort, in der ich mit Merce Cunningham zusammengearbeitet habe. So wie wir Tanz und Musik zusammenbrachten, ohne sie aneinander zu binden, so werden in Europeras Handlung und Gesang, die Bewegung der Bühnenbilder, Requisiten und Beleuchtung so beibehalten, daß das eine vom anderen unabhängig bleibt und so eine komplexe, neue Art Theater entsteht.

Wurde die Oper überall in Europa aufgeführt?

Nein, nur in Frankfurt (Uraufführung von „Europeras 1 & 2 am 15.11.1987 an der Oper Frankfurt/d.Red), und dann gab es hier in Purchase (New York State) drei Aufführungen.

Haben Sie Zukunftspläne für „Europeras“?

Ich weiß nicht. Der Mann, der das Stück auf die Beine stellen kann, ist mittlerweile in München, und es gibt niemanden in Frankfurt, der es machen oder proben könnte. Es ist auch sehr schwer, die Opernsänger zusammenzubringen und mit ihnen zu proben, denn man weiß nie, ob sie Zeit haben. Vielleicht kriegen sie einen anderen Job in einer andern Oper, wo sie ein bißchen mehr Geld verdienen. Die Besetzung änderte sich ständig, man konnte kaum proben, so waren die Aufführungen recht kläglich.

Woran arbeiten Sie zur Zeit?

Ich arbeite an einem Stück für zwei Klaviere.

Hat es schon einen Titel?

Es wird Zwei heißen mit einer kleinen Zahl 2 rechts oben, wie zwei hoch zwei, zwei in der zweiten Potenz. Ich habe eine ganze Serie von Kompositionen begonnen, deren Titel Zahlen sind.

Welches war die erste?

Die erste hieß kurioserweise Zwei, ein Stück für Flöte und Klavier. Dieses hier ist für zwei Klaviere.

Wie lang ist es her, daß sie das erste Stück dieser Serie komponiert haben?

Ich glaube, ungefähr zwei Jahre (lacht). Das neue Stück schreibe ich für eine Gruppe, die Double Edge-Do heißt. Kennen Sie sie?

Ja, ich habe von ihr gehört. Benutzen sie in Ihrem „Zwei 2“ -Stück auch Zufallsoperationen?

Oh, ja.

Welchen Rat haben Sie für einen jungen Menschen heute?

Ich glaube, jede junge Person muß für sich herausfinden, woran sie glaubt, und dann muß sie es tun. Und wenn sie es tut - wird etwas Neues geschehen.

Letzte Frage: Spielen Sie jemals ihre eigenen Stücke?

Nein, ich höre lieber dem Verkehr zu (lacht). Er ist voller Klänge, einfach toll!

Arleen Schloss lebt in New York als freie Künstlerin, sie hat mit John Cage, Glenn Branca u.a. in verschiedenen Projekten zusammengearbeitet. Zur Zeit arbeitet sie an einer Cage-Portrait-Serei auf Glas bzw. Spiegel. Aus dem Amerikanischen von Elke Schmitter und Christiane Peitz