Fortschritt nur im Schneckentempo

■ Die Welt-Aids-Konferenz, das große jährliche Spektakel, ging am Sonntag abend in San Francisco zu Ende

Die 11.000 Wissenschaftler auf der alljährlichen Aids -Konferenz, die wegen des Einreiseverbotes für HIV -Infizierte schon im Vorfeld für Schlagzeilen sorgte, waren sich uneinig: Noch in diesem Jahrhundert werde man diese Krankheit so einfach behandeln können wie Diabetes, sagen die einen; die medizinischen Fortschritte seien viel zu langsam, sagen die anderen.

Wer in diesen Tagen durch San Franciscos große Geschäftsstraße ging, die Market Street, konnte Aids nicht übersehen. Die Gegend am South Market wurde von den 11.000 Delegierten der Internationalen Aids-Konferenz belebt, und in den Kaufhäusern und Schaufenstern hingen Hunderte Einzelteile des Quilts, Stofftücher zum Gedenken an die Aids -Toten. Jede der großen Tageszeitungen der Stadt war mit Sonderausgaben zur Konferenz präsent.

Die Internationale Aids-Konferenz hat sich mittlerweile zu einem Mega-Betrieb entwickelt, dessen Nutzen viele bezweifeln. Die Konferenz ist wie jede Medizinertagung auch ein Ort, an dem die Pharmaindustrie ihre neuesten Produkte vorstellt. „Es wirft doch ein bezeichnendes Licht auf die Pharmakonzerne, daß alle diese Mediziner hier kostenlos hergekarrt werden“, sagt Dr.Gerd Bauer, der in West-Berlin eine HIV-Schwerpunktpraxis betreibt und sich selbst von dieser Kritik nicht ausnimmt. Der Boykott der Konferenz, zu der mehr als 150 Organisationen weltweit aus Protest gegen die Einreisebeschränkungen für HIV-Positive in die USA aufgerufen hatten, zeitigte nur wenige Konsequenzen. Einige europäische Referenten hatten ihre Vorträge zurückgezogen und wurden schnell durch US-Experten ersetzt, was die Konferenz noch stärker als ohnehin zu einer amerikanischen machte. Viele US-Gruppen haben ihre Boykott-Erklärungen selbst unterlaufen und waren mit Ständen vertreten.

Die Politisierung der Konferenz ging von den Act-Up -Aktivisten aus. Erst 1987 gegründet, haben sie mittlerweile eine Schlüsselrolle im Kampf gegen Aids inne. Mit Demonstrationen und Aktionen, bei denen im Laufe der Woche mehr als 350 Personen festgenommen wurden, brachten sie die Forderungen von Aids-Kranken zu Gehör. Anders als auf der letzten Konferenz in Montreal protestierten sie nicht nur vor den Toren, sie konnten ihre Argumente auch mit offiziellen Referenten in der Tagung selbst vortragen. Im Zentrum ihres Verlangens stehen größere Rechte für die Patienten und die direkte Beteiligung an der Planung von Therapie-Studien. Auch experimentelle Therapien mit noch nicht erprobten Substanzen werden in einer Situation, in der immer noch keine Heilung von der Immunschwächekrankheit in Sicht ist, als Grundrecht eingefordert. Jay Lipner aus New York, der seit 1982 mit Aids lebt, brachte es auf den Punkt: „Daß ich meine Gesundheit verloren habe, heißt nicht, daß ich nicht fähig wäre, mit darüber zu entscheiden, welche Medikamente ich nehmen will und welche nicht.“ Auf der Konferenz wurden Erfahrungen in den USA mit einem erweiterten Zugang zu neuen Medikamenten diskutiert und allgemein festgestellt, daß diese Liberalisierung dazu geführt hat, schnellere und dennoch saubere Daten über den Nutzen dieser Substanzen zu erhalten. Eine ganze Reihe der in San Francisco präsentierten Studien wurde von lokalen Forschungszentren vorgestellt, in denen Ärzte und Patienten eng zusammenarbeiten. Nach Angaben der American Foundation für Aids Research, der die Schauspielerin Liz Taylor vorsitzt, existieren nach nur zwei Jahren bereits 42 solche Zentren in den USA.

Die Act-Up-Aktivisten haben die Politisierung der Konferenz erzwungen, aber auch ein guter Teil der Wissenschaftler, die sich zunehmend von der offiziellen Politik enttäuscht zeigten. Ihre Hauptkritik: Immer stärker wird die Aids -Prävention und Betreuung an finanziellen Prämissen statt an sachlichen Notwendigkeiten ausgerichtet - das Diktat der leeren Kassen. Die Frustration über diese Entwicklung schlägt sich in einer Solidarisierung von Experten und Betroffenen nieder. „Wir stecken alle zusammen in der Aids -Krise.“ Das war auch die Botschaft des HIV/Aids-Marsches, an dem am Vortrag der Schlußveranstaltung 20.000 Demonstranten teilnahmen, darunter viele tausend Delegierte. In vorderster Reihe liefen neben Mitgliedern der Act-Up -Gruppen und der Aids-Hilfsorganisationen die Konferenzvorsitzenden Paul Volberding und John Ziegler sowie der frühere Leiter des Aids-Programms der Weltgesundheitsorganisation, Jonathan Mann, der seinen Posten aus Enttäuschung über die unzureichende Unterstützung der WHO vor kurzem quittierte. Aufklärung und Prävention, das sind trotz allem weiterhin die zentralen Stichworte in der Aids-Forschung. Unbestritten sind dabei die immensen Verhaltensänderungen, die mit Kampagnen bei schwulen und bisexuellen Männern erreicht wurden. Aber neue Studien zeigen auch, daß einige Männer wieder zu alten unsicheren Sexpraktiken zurückkehren. Als Problemgruppen wurden hier vor allem junge „nachwachsende“ Schwule und Männer aus ethnischen Minderheiten genannt.

Und die Länder der Dritten Welt beginnen gerade erst mit massiven Aufklärungskampagnen, obwohl in einigen Regionen Aids mittlerweile das Gesundheitsproblem Nr.1 zu werden droht. Eine Untersuchung aus Abidschan in West-Afrika belegte, daß dort die Immunschwäche inzwischen für 12 Prozent aller Todesfälle verantwortlich zu machen ist. Und mehr als 40 Prozent der untersuchten Verstorbenen waren entweder mit dem HIV-1 oder dem erst später entdeckten HIV-2 -Virus infiziert. Die betroffenen Länder sind aber noch weit von einer Situation entfernt, in der sich die Kranken selbst organisieren und ihre Forderungen erheben können.

Aber auch in den westlichen Ländern macht sich zunehmend Frustration breit. Denen, die an Aids erkrankt sind, geht der Prozeß der wissenschaftlichen Forschung viel zu langsam. Das Wort vom „Aids-Terrorismus“ machte die Runde, und einige der Aktivisten wiesen diesen Gedanken auch nicht mehr zurück. Peter Staley von Act Up fragte in seiner Rede: „Gibt es einen Weg, dies zu verhindern? Ich bin nicht mehr so sicher. Auf meiner Seite haben Ärger und Frustration einen Punkt erreicht, an dem ich manchmal glaube, daß ihr Wissenschaftler unverantwortlich und nur an Profit und Renommee orientiert arbeitet.“ Die Mehrheit der Betroffenen setzt jedoch auf gewaltfreie Strategien.

Im selben Moment, als der US-Staatssekretär für Gesundheit, Louis Sullivan, die Konferenz am Sonntag abend für beendet erklärte und sich als einziger Vertreter der US-Regierung die Buh-Rufe der Delegierten abholte, begann um die Ecke die jährliche schwule Parade mit 300.000 Teilnehmern. Ihr Motto: „Die Zukunft ist unsere.“

Andreas Salmen