ECRIVATIO POSTCOX

■ Gerhard Seyfrieds Spätcomic bestraft das Leben

Gerhard Seyfried, der Loriot für Schwarzjeans, Nieten und großes Kreuzberger Ohrgebaumel, hat sein neuestes Werk vorgelegt. Außerdem läßt sich der alternative Polizeimaler vom Rotbuch-Verlag mit einer Ausstellung seines 15jährigen Werks gerade in der Galerie am Chamissoplatz endgültig ab und ins Aus feiern.

Flucht aus Berlin heißt der aktuelle Comic. Natürlich denn auch Mauerfall & Folgen wollten, neben allen anderen gängigen Politklischees noch kurz vorm Abgabetermin verwurstet sein. So finden sich in den Sprechblasen des Wimmelbildners nicht nur Riesenkonzerte vorm Reichstag, tumbe KOBs und Vopos, faschistoide Kewenigs, Faschos von REP bis Wiking-Jugend, Tschernobyl, Deutsche Bank, Wohnungsnot, Fluglärm, Plutoniumlaster Hochhäuser, Verfassungsschutz. Nein, auch die Fluchtwelle, der kosumgeile Ostler, der Kiez ohne Mauer, das Volkskammerwahlergebnis Hauptstdt und Olympia werden abgehakt. Motto: Kohlrouladen in brauner Soße.

Schon der Auftakt ist katastrophal, da dürfen wir streng autobiographisch mal das Altbau-Penthouse des Autors besichtigen, wir haben es als eifrige LeserInnen ja verdient, weil mitbezahlt. Seyfrieds Freund Inspirator „Zwille“ kommt zu Besuch, bringt einen Polizeistern mit, den er einem Spandauer Bullen von der Mütze gepflückt hat. Mercedes-Stern-Sammeln ist eben out. Die hirnrissige Story: Seyfried hat einfach keine Ideen mehr, es fehlt ihm an Inspiration, weshalb er nach Sibirien flüchten muß, zum angeblich besten Geschichtenschreiber der Welt, das ganze einschließlich Arbeitslager, Kaufhaus Gum, Steckpuppe und Landserpappi. Vorn reingequetscht noch etwas CDU-Senats -Vergangenheitsbewältigung mit 87er Maifeier und rot-grüner Wahlkampf, wobei der Meister ordentlich Gelegenheit für seine gewohnten Kurzkunstgriffe hat. Haltbarkeitsdatum abgelaufen: Kredit- und Folterbank, Marihuannen-Platz, Don't worry be Nazi, Grasnost, Kohlera. Immer knapp unter dem Niveau der Alex-Transparente der Novemberrevolution oder besonders witzig gemeinten taz-Schlagzeilen. Hinten eingebaut ein kleiner Strang „Nazis unterm Potsdamer Platz mit schockgefrostetem und aufgetautem Führer, sowie, um das Chaos komplett zu machen, mal schnell noch der aktuelle Grenzverfall. So muß Seyfried am Ende ein zweites Mal aus Berlin flüchten, weil es jetzt alles noch mehr nach rechts rutscht, der Konsum rauscht'die Trabis stinken usw.

Alles in allem glatter LeserInnenbetrug, denn wer erwartet unter diesem Titel nicht die komplette aktuelle Novemberanalyse. Stattdessen gerade mal schlappe acht von 63 Seiten „Flucht aus Berlin“. Doch trotz Etikettenschwindels verkaufte sich das Comic-Album in nur 14 Tagen bereits 20.000 mal. Viele Vorbestellungen?

Unredlich ist die Sache auch, weil Seyfried selbst leider gar nicht daran denkt, die zukünftige Hauptstadt endlich wieder Richtung Heimatdorf München zu verlassen. Jetzt, wo es hier so spannend sei, wolle er auf keinen Fall weg, vielleicht in ein paar Jahren nach New York oder Sao Paulo, meinte Seyfried auf einer Pressekonferenz anläßlich der Ausstellungseröffnung. Außerdem liebe der Bayer (Im O -Ton: Ick) den Berliner Volksmund doch so, der jetzt ja vonwegen Osten noch berlinerischer werde, das finde er dufte. Nach Westdeutschland jedenfalls werde er nicht zurückgehen, weil das gegen Berlin ja so abfällt. Noch kriege er genug Inspiration, z.B. beim Einkaufen im Supermarkt um die Ecke. Das reiche ihm. Vorm großdeutschen Wahn warnt er dann noch, demonstrativ kiffend, mit rotgefärbten Haaren gramgebeugt, die Promenadenmischung streichelnd. Und empfiehlt der Szene in die Zukunft blickend: Freaks zieht nach Charlottenburg.

Als sei dies alles noch nicht armes Selbstzeugnis genug, setzen Galerist, Lektor sowie Festredner und Zeichnerkollege F.W. Bernstein nun zu penetrantem Wegloben an. Den Max-und -Moritz-Preis des Erlanger Comic-Salons hat er bekommen, ganze Polizeiwachen sammelbestellen seine Bücher, Polizeichöre fordern endlich ein Lalülala-Poster von ihm, wenn man seine Wimmelbilder dreimal beschaut, hat man erst 80 Prozent gesehen, DDR-Großmütter haben früher seine Comics in die Zone geschmuggelt, die Bilderarmut der deutschen Linken hat er kuriert, im deutschen Herbst hat er freundliche Blätter gemalt, Freundbilder statt Feindbilder, hohes Niveau, Bestsellerlisten.

Die zweite Auflage der „Flucht“ mit 15.000 wird bereits gedruckt, die dritte mit 30.000 ist schon in Vorbereitung. Seyfried, oder was? Wenn wir den Mann nicht bald ins wohlverdiente Umland verlegen, schäumt Schultheiss demnächst das Bier zur Freakadelle auf.

kotte

„Flucht aus Berlin“, Rotbuch-Verlag, 19,80 DM. „Comics und Cartoons“ Ausstellung in der Galerie am Chamissoplatz, 1-61, bis 2.9.90.