Es ist komplettiert

■ Verbotene Zonen, geöffnete Kerker

Gabriele Goettle

Der erste Teil der vierteiligen Serie über eine Reise der Autorin durch den Norden der DDR - zusammen mit Elisabeth Kmölniger - erschien am 28. Mai: „100. Kampftag der Arbeiterklasse“. Die zweite Folge - über „Broilernotstand und Hennenmord“ - erschien am 9. Juni, die dritte Folge „Pirsch durch ein ehemaliges Reservat“ - am 18. Juni. Heute die letzte Folge.

In Momenten, in denen die Geschichte mit atemberaubender Geschwindigkeit davoneilt, werden ihre Ruinen zu Orten der Beschaulichkeit. Es lohnt sich, noch einen Blick darauf zu werfen, bevor sie für immer verschwinden. Über entminten Todesstreifen, Sommersitzen des Politbüros, russischen Militärsperrgebieten, verlassenen Wachtürmen und wilden Müllkippen schwebt muffig der Geruch des Vergangenen, einer martialisch-bürokratischen Lagermentalität. Die Überreste ihrer einstmals lückenlosen Sicherung sind herrenlos geworden. Daß diese Bollwerke mit ganz anderen als militärischen Mitteln überrannt wurden, läßt sie heute herumstehen wie Zeugen eines tragischen Irrtums. Um sie herum ist es still wie im Auge des Orkans. Die Ruhe ist geradezu einschläfernd, während doch überall heftige Umwälzungen stattfinden und die Psychen im Sog der Veränderungen blindlings mitgerissen werden. Stasi-Gefängnis in Potsdam

Wenige Schritte entfernt von einer aufwendig renovierten Fußgängerzone, von Cafes, Buchläden, Modegeschäften und Blumenläden, liegt im Hinterhof ein ehemaliges Stasi -Gefängnis. Es ist frei zugänglich, eine Arbeitsgruppe von Bürgern verwaltet es, macht Führungen, Ausstellungen und gibt Informationen.

Das alte Gebäude ist mehrstöckig. Im Haus glänzt immer noch alles vor Sauberkeit. Diese Sauberkeit liegt in mehreren Schichten übereinander, in dick mit grauer Ölfarbe lackierten Geländern, Treppen und Gittertüren, in verharztem Bohnerwachs, das alle Fugen ausfüllt. Generationen von Häftlingen haben hier gewienert, es scheint eine Ewigkeit vorzuhalten. Auf jeder Etage ziehen sich eiserne Galerien hin und aufgespannte Drahtnetze. Durch das Glasdach fällt Licht in die Etagen, die nach unten hin immer düsterer werden. Hinter schweren Türen mit Klappe und Spion liegen die Zellen, schmal und stickig. An den Fenstern, bestehend aus Glasbausteinen, sind kleine Lüftungsschlitze angebracht. Wahrscheinlich waren diese winzigen Räume ehemals Einzelzellen, man hat die zur Wand aufklappbaren Betten herausgerissen und zwei Bettgestelle hineingepfercht. Für Tisch und Schemel ist da kaum noch Platz, geschweige denn für die Gefangenen.

Man hat alles weitgehend so gelassen, wie man es vorfand. Überall stehen Schildchen mit der Bitte, nichts mitzunehmen. An den Waschbecken hängen noch Handtücher und Waschlappen, in den Seifenschalen kleben vertrocknete Reste, selbst Zahnbürsten fehlen nicht. In einer Gemeinschaftszelle mit Stufenbetten sind die Stühle vom Tisch weggerückt, so als wären die Häftlinge gerade erst aufgestanden. Im Duschraum riecht es nach Moder und Desinfektionsmittel, zwischen den weißen Kacheln bröckelt der Kitt vor Trockenheit. Vor der Tür verlaufen dicke Wasserrohre, mit großen Rädern bestückt. Man kann sich den Wärter lebhaft vorstellen, wie er, um sich ein wenig den grauen Alltag zu versüßen, das Rad für heißes oder kaltes Wasser voll aufdreht.

Durch den Spion der einzig verschlossenen Tür kann man in die Wäschekammer blicken. Irgendein Kleidungsstück liegt auf dem Bügelbrett, in Regalen ist ordentlich Bettwäsche aufgestapelt. Die Kleiderkammer ist zugänglich. Hier liegt alles durcheinander. Auf dem Boden türmen sich Berge von Schuhen, Socken, Uniformjacken mit abgetrennten militärischen Zeichen, Hosen, Hemden, blaue Shorts. Es sind ausgemusterte Sachen von Polizei und Volksarmee, vorgesehen als Anstaltskleidung. In den Regalen liegen Kartons mit Nähzeug, Stoßbändern, Schuhcreme, eben all das, was verteilt wurde. Es finden sich merkwürdigerweise auch zwei gesteppte Büstenhalter aus festem, glänzendem Stoff und zwei massive Hüfthalter. Vielleicht hatte man eine der Zellen notfalls auch für Frauen vorgesehen.

Bereits nach diesem unverbindlichen Rundgang wird das Hinaustreten auf den Hof als befreiend empfunden. Dabei ist es hier nicht weniger beklemmend. An den geschlossenen und nach oben hin mit Drahtgittern gesicherten Laufzellen stehen die Türen offen. Auf kleiner Grundfläche, ohne jede Kontaktmöglichkeit und vom darüberliegenden Wachturm aus beobachtet, haben die Häftlinge hier ihre „Runden“ absolviert. Überflüssig zu erwähnen, daß nirgendwo ein Grashalm wächst. Sperrgebiet Zingst

Links von Rügen liegt die Halbinsel Zingst. Vom gleichnamigen Badeort aus führt die Straße über MÜggendorf, an einer großen LPG der „Tierproduktion“ vorbei, zu einem Verbotsschild: „Militärisches Sperrgebiet!“ Weit am Ende der Landstraße sieht man hinter hohen Zäunen das Lager der Volksarmee. Als Alternative bietet sich ein Waldweg an. Links ein einsames Ferienobjekt mit geschorenem Rasen, dann umgibt nur noch dichtes Unterholz den schmalen, mit Betonplatten belegten Damm. Er führt schnurgerade zum Meer und ist gesäumt von Warntafeln: „SPERRGEBIET! Unbefugten ist das Betreten, Befahren u. die bildliche Darstellung verboten. Zuwiderhandlungen werden bestraft.“ Diese Menge von gleichlautenden Schildern auf einer Strecke von vielleicht zwei Kilometern ist eigentlich bereits ein Zeichen für die Kapitulation vor dem Unbefugten, denn, hat er bereits das erste Schild ignoriert, wirkt jedes weitere ja nur noch lächerlich.

Der Strand liegt blendendweiß und menschenleer unter den Wachtürmen. Am rostigen Stacheldraht schwankt sacht eine Warntafel im Wind: „ACHTUNG! Start meteorologischer Raketen! Mittwoch und Freitag v. 12.30-15.00 besteht Lebensgefahr. Nicht weitergehen!“

Heute ist Dienstag. Jenseits der Absperrung ist auf den Fahrwegen zwischen den Dünen bereits Seegras gewachsen. Der feine Sand hat alle Spuren zugeweht. Es herrscht paradiesische Ruhe, um den sumpfigen Tümpel am Waldrand wimmelt es von Reh-, Hasen- und Vogelspuren. Die Ostsee glitzert, auf den weißen Sand gleiten sanfte Wellen, der graue Algenschaum zittert ein wenig im Wind, bevor seine Blasen zerplatzen. Zwischen angespültem Tang findet sich ab und an eine russiche Wodkaflasche, ein dänischer Joghurtbecher, sonst nichts. Erst nach zwei Kilometern etwa münden hüfthohe rostige Eisenrohre ins Meer, steht ein Gewirr von Eisenträgern und verbogenen Platten im Sand. Womöglich gab es doch eine Rampe? Hier jedenfalls stehen keine Wachtürme. Weit draußen auf dem Meer kreuzt ein Boot mit gelbem Segel. Varnkewitz auf Rügen

An der Nordküste Rügens, jenseits der Badeorte, liegen Ortschaften, die aus Sicherheitsgründen auf keiner DDR-Karte verzeichnet sind. Hier durften nur vertrauenswürdige Kader Ferien machen und Datschen besitzen. Drei Stunden Fußweg vom Kap Arkona entfernt liegt ein solcher Ort, mit kleiner LPG, verstreuten Höfen, überschaubaren Feldern, den notwendigsten Läden. Etwas abseits davon steht ein FDGB-Ferienhaus für Ingenieure der VEB Hochbau. Vor dem tristen Gebäude hat man ordentlich abgezirkelte Stiefmütterchenbeete angelegt. Diese Tristesse setzt sich innen fort. Es herrscht eine Atmosphäre, wie ich sie mir in Entwöhnungsanstalten vorstelle. Apathische Männer um fünfzig sitzen und stehen tatenlos in der beheizten Halle herum und scheinen auf nichts anderes mehr zu warten als auf die Mahlzeiten. Im sozialistisch-spartanischen Speisesaal sind die Tische gedeckt, auf jedem ein Blumenväschen, exakt in der Mitte plaziert. Das alles wird überstrahlt von einer üppigen Salatbar zur Selbstbedienung. Aus der dahinterliegenden Küche hallt Gelächter und das Klappern von Töpfen, es zerrt an den Nerven der Wartenden, Tag für Tag. Andere Kurzweil scheint nicht vorgesehen zu sein.

Auch das Meer ist für ältere Menschen nur über halsbrecherische Pfade zu erreichen. Hinter einem Buchenwäldchen fällt die Küste steil ab. Wer sich dennoch die Mühe macht, hinabzuklettern über teils kreidige, teils sandige Abhänge, dem winkt als Lohn ein mit großen Steinbrocken übersäter Strand. Zwischen angeschwemmten Holzbohlen, Netzresten und Plastikbehältern liegen die luftgetrockneten Kadaver des letzten Fischsterbens. Mitten in dieser Einöde ein großer Stein, halb im Wasser, auf dem mit weißer Ölfarbe geschrieben steht: „RENT BOYS from POLAND“.

Die Kurgäste spazieren an schönen Tagen oben an der Steilküste entlang, hier führt ein von Weißdornhecken geschützter Weg bis zum Kap. Wir treffen ein Ehepaar, aus Bitterfeld, wie sich herausstellt. Der Mann hat es mit der Lunge, er hat eine dreiwöchige Kur erhalten. Die Gattin, ohne Kurberechtigung, darf ihrem Mann täglich bis 22 Uhr im Aufenthaltsraum Gesellschaft leisten, dann muß sie ihr Privatzimmer beim Bauern aufsuchen. Da sei man streng, erklären sie und lächeln vielsagend, immerhin traut man ihnen noch einiges zu.

Am Abend zieht ein Sturm auf, Gewitterwolken ballen sich über dem Meer zusammen, aber es blitzt nur ab und zu, ohne daß Donner zu hören wäre. Durchs Buchenwäldchen kommt ein Mann mit zwei Kindern an der Hand, sein Karl-Marx-Bart fliegt ihm im Wind halb über die Schulter. Wir begrüßen uns und kommen ins Plaudern, er lädt uns zu einem Rotwein in seine Datsche ein. Elisabeth mag nicht, aber ich nehme an.

Das lindgrün gestrichene Holzhäuschen liegt zwischen Ingenieursheim und Küste. Innen ist es warm, ich bekomme Filzschuhe, die Gattin begrüßt mich mit umgebundener Schürze und ist gar nicht überrascht. „Winterfest!“ sagt der Mann und klopft gegen die Wand. In der schlicht eingerichteten Wohnstube liegt auf dem Tisch das DDR-übliche Wachstuch. Die Kinder springen sofort auf die Eckbank, verlangen Coca-Cola, zanken sich um ein Plastiketui voll westlicher Filzstifte und fangen an zu malen. „Immer wollen sie nur Coca-Cola“, sagt die Mutter seufzend und verteilt eine Büchse auf zwei Gläser. Ich erkläre, daß es für mich keinen Unterschied zu schmecken gibt zwischen Ost- und West-Cola. Der Junge betrachtet mich gütig: „Eigentlich is‘ das wahr... aber nur, wenn sie kalt sind, wenn sie warm sind, schmeckt die West -Cola nach Blech.“ Diese philosophischen Worte gehen unter im väterlichen Befehl, jetzt zu Bett zu gehen.

Als endlich Ruhe herrscht, sagt der Mann: „Als ich das Auto vorn stehen sah, da wollte ich schon sagen, stellt es doch hier vors Haus, das erspart Ärger... aber das ist ja vorbei. Früher, da durfte sich keiner nähern, unentwegt fuhr der Grenzschutz herum, die ganze Nacht wurde von See her die gesamte Küste abgeleuchtet mit starken Scheinwerfern.“ Die Gattin hat eine Kinderjeans auf dem Schoß zum Flicken und seufzt: „Ja, so ist das mit uns, wir haben immer noch diesen Reflex... dabei kann man sich ja Tag für Tag überzeugen... unlängst haben sie das große Radargerät abtransportiert, dafür wurde extra der Weg planiert. Zum Glück ist das Ding jetzt weg, es ging ja immer nur uiieeih... uiieei... kein Sender war ins Radio reinzubekommen, jetzt geht's einwandfrei.“

Im Verlauf des Gespräches stellt sich heraus, daß beide Mitglieder der Akademie der Wissenschaften sind, sie promoviert, er habilitiert. Beide sind Genetiker und arbeiten in der Zellforschung. Unmittelbar nach Öffnung der Grenzen bekamen sie die ersten Angebote aus Amerika. Sie haben lange überlegt und sich dann für New Jersey entschieden, wo sie für ein Jahr in Princeton arbeiten werden. Die Kinder lernen bereits Englisch, in einem Vierteljahr geht es los. Sie sind sehr zuversichtlich, was ihre eigene Zukunft betrifft, über die politische Situation ihres Landes sind sie beunruhigt. „Als Linker, ohne je in der SED gewesen zu sein, mache ich mir Sorgen über die Entwicklung, unsere Identität verschwindet, wir werden eine Massenarmut bekommen und vielleicht noch Schlimmeres, das sind alles Dinge, die wir nicht kennengelernt haben bisher, und ich bin sicher, es wäre besser, auf solche Erfahrungen zu verzichten“, sagt der Mann nachdenklich und streicht über seinen Bart, blüht aber sofort auf im Lob seines Forschungsgegenstandes, in dem er eine große positive Zukunft sieht. Noch wiegt er sich in der Hoffnung, auf einem politisch neutralen wissenschaftlichen Gebiet zu arbeiten. Russisches Militärgelände

Heute ist Flugtag. Die russischen Mig-Jäger brausen fauchend ins Firmament, das Geräusch beim Start ist derart unmenschlich, daß man es kaum glauben kann. Bei der Rückkehr fliegen sie den Müritzsee an und landen neben den halb unterirdisch liegenden, grasbewachsenen Hangars aus der Nazizeit. Die Landstraße führt nahe daran vorbei, überquert das hintere Ende des Flugplatzes, der durch keinerlei Absperrung kenntlich gemacht ist. Wäre da nicht am Straßenrand diese leicht zu übersehende Ampel, der ein ganzer Schilderwald für strenges Parkverbot und Aufforderungen zum zügigen Weiterfahren folgen, man würde gar nicht bemerken, wo man fährt. Nach etwa 200 Metern lehnt ein russischer Posten mit Maschinengewehr an seinem rot-weiß gewürfelten Wachhäuschen und raucht. Man hat soeben den hinteren Teil der Landebahn überquert.

Ob wir auf einer regulären Straße waren oder nicht, ist uns bis heute unklar. Dieser Feldweg jedenfalls, in den wir einbiegen, im Glauben, so zum See zu kommen, ist kein regulärer. Er endet nach längerer Fahrt vor einem Platz im Wald, auf dem ein Berg merkwürdig feinkörniger Schlacke, vermischt mit weißlichem Pulver, aufgeschüttet liegt. Der nächste Weg schlängelt sich, versehen mit tiefen Löchern, durch ein ausgedörrtes Gelände mit niedrigem Buschwerk. Am Wegrand liegt, wenn ich mich nicht täusche, eine eingebeulte und angerostete Fliegerbombe. Wir ahnen jetzt, wo wir sind, beschließen aber dennoch weiterzufahren. Schließlich führt der Weg durch einen dichten Wald, hinaus zu einem großen eingezäunten Gelände. Zahlreiche grasbewachsene Erdbunker sind zu sehen, flache Baracken und eine hölzerne Lagerhalle, vor der ebensolche Bomben, nur glänzend und neu, wie Brennholz aufgestapelt sind. Wir fahren vors Tor, der Posten wirkt verstört. Ein junger Mann in ockerfarbener Uniform und schmucken Stiefeln, um die Taille den Gürtel, öffnet vorsichtig ein wenig das Tor. Die Frage nach dem See scheitert an einer Verständigungsmöglichkeit, und erst, als ich schwimmende Armbewegungen mache, ruft er nach seinen Kameraden. Sie kommen, mit Spielkarten in der Hand und offenem Stehkragen, beraten sich einen Moment, dann ruft der Posten fragend aus: „Müritz, Müritz?“ Wir sind sehr dankbar, er weist mit dem Finger die Richtung, alle lächeln erleichtert.

Der Weg, den er gezeigt hat, führt mitten durch eine Müllkippe, auf der neben Küchenabfällen des Lagers auch Autoreifen liegen, Ölfässer und ein ganzer Haufen wunderbarer grünlackierter Holzkisten, in denen noch Munitionshülsen und Metallgurte herumliegen. Gern würden wir eine davon mitnehmen, aber womöglich beobachtet man uns noch. Stophs Ferienobjekt

Zum Müritzsee hätte man auf einer wunderbar asphaltierten Straße fahren können, über die ehemals Herr Stoph mit Begleitung und Gästen brauste. Wir haben sie nicht gefunden. Vorbei an einem Campingplatz, Ferienbaracken für junge Pioniere, einem Forsthaus, endet sie für den Unbefugten vor dem Tor zum Stophschen Grundstück. Dahinter liegt, auf einem Gelände mit den Ausmaßen früheren Großgrundbesitzes, das Ferienhaus mit Nebengebäuden, nicht ganz so schlicht wie in Wandlitz. Zwei große Seen gehören dazu, Wald, Wiesen und ein langer Uferstreifen vom Müritzsee. Naturschützer haben das Objekt im strategisch richtigen Moment unter ihre Obhut genommen und veranstalten jeden Samstag Führungen; vogelkundlich und politisch.

An der danebenliegenden Badebucht der Jungen Pioniere, mit Fallklos und Spielwiese, wird deutlich, weshalb die Russen über meine Schwimmbewegungen erst beratschlagten. Der See ist knietief, lediglich weit draußen zeigt eine rote Boje die Fahrrinne für Schiffe an. Man watet durch sandigen Grund, von dem schwefelige Blasen aufsteigen. Fische oder Wasserpflanzen sind nicht zu sehen.

Gegen Abend kommt ein Mann im Barkas angefahren und unterhält sich eine Weile mit uns. Er betreut das Ferienlager der Jungen Pioniere aus Karl-Marx-Stadt und hat Humor: „Aber so wie's aussieht, ham wir keine Jungen Pioniere mehr und auch kein Karl-Marx-Stadt.“ Er macht trotzdem weiter wie üblich, erzählt, der See sei in den letzten drei Jahren fast sechs Meter vom ursprünglichen Ufer zurückgetreten. Das liege daran, daß die Landwirtschaft in den trockenen Sommern viel entnommen hat und auch viel weggegangen sei für die Berliner Gewässer, damit sie schiffbar bleiben bei niedrigem Wasserstand. Für die Kinder sei das, falls überhaupt..., ja nun kein großes Vergnügen mehr, dafür könne man aber durch den Zaun schlüpfen und mal alles anschaun, wofür es früher drakonische Strafen gesetzt habe.

Über die Russen drüben, hinter dem Wald, sagt er: „Die sitzen dort in diesem Gelände, da ist alles unterirdisch ausgebaut, das ham im 3.Reich Strafarbeiter gemacht, es is‘ wohl da was zusammengesetzt worden unten, die V 2 oder was, auch irgendwie Flugzeuge. Das wird ja nun Zeit, daß die mal auch gehen, aber die wissen ja nicht, wohin mit den Leuten zu Hause... und Rücksicht haben die ja nie genommen! Da sind schon mal ein paar tausend Liter beim Auftanken danebengegangen, das haben wir dann alles hier im Wasser. Und auch der Krach die ganze Zeit, die fliegen hier über den See, eine Handbreit über dem Wasser, hab‘ ich selbst gesehen... bis mal einer runterkommt! Dabei, wir haben hier Fischadler, dort drüben brütet ein Paar. Erst gestern war ein Fotograf da, der stand auch hier mit seinem schicken Wohnmobil, wollte die Adler fotografieren. Der Förster is‘ mitgegangen und hat solange gegen den Mast getreten, bis sie aufgeflogen sind... na, also, sowas find‘ ich ja auch nicht richtig! Na, mir soll's egal sein.“ Grenzzaun an der Elbe

Der Ort heißt Lütkenwisch. Schräg gegenüber, jenseits der Elbe, liegt Schnackenburg, weiter hinten Lüchow-Dannenberg und Gorleben. Es gibt jetzt einen Fährverkehr über den Fluß, am Wochenende schwärmen die Ausflügler ans östliche Ufer, vertreten sich ein wenig die Beine, um dann, weil's nichts weiter zu sehen gibt und auch nichts zu essen und zu trinken, schleunigst wieder zurückzukehren.

Oben auf dem asphaltierten Grenzwall kann man kilometerlang an den Betonpfeilern des einstmaligen Grenzzaunes entlanggehen. An manchen Stellen sind die eisernen Sichtblenden noch nicht abmontiert, und man schaut durch die rostigen Metallschlitze auf die Elbe hinab. Auf den Uferwiesen weiden Schafe, hier hat man zugunsten freier Sicht keinen Baum stehengelassen. Anthrazitfarben und träge fließt die Elbe dahin, entlang an unbegradigten Ufern und Einbuchtungen. Jenseits der Böschung liegen Bauernhäuser, eine LPG. Im Schatten der Bäume lagern wiederkäuende Kühe, irgendwo kräht ein Hahn.

Von der Elbe herauf kommt langsam ein alter Mann mit Angel und bleibt vor dem Friedhof stehen. Der Schäfer hat hier seinen bonbonrosa bemalten Wohnwagen abgestellt, daneben, in stabilen, schmalen Eisenkäfigen, schmachten seine Hunde unter der Nachmittagssonne. Furchtlos greift der alte Mann durch die Gitterstäbe und herzt die wuscheligen schwarzen Tiere. Er flötet: „Ja meine Guten, kommt nur, soo...“, und die großen Hunde schmiegen sich mit geschlossenen Augen seiner Hand entgegen. „Die können Sie ruhig anfassen, so gutartig wie die sind“, ermuntert er uns. Und tatsächlich! „Na, das war was mit denen“, fährt er fort, „waren ja Grenzhunde beide, sind russische Leica-Hunde, so nennen wir sie. Hier hinten, dort am kleinen Hügel, gingen sie an Laufleinen. Die sind jetzt weg. Na und die Grenzposten! Die hatten den ganzen Tag Langeweile, war ja nichts los, haben immerzu mit den Hunden gespielt, haben die sowas von verwöhnt und gefüttert... jetzt sind sie sogar für den Schäfer verdorben. Er läßt sie im Käfig, die sind auch noch von der Armee, viel zu eng, ja... und da sollen sie wohl ein bißchen scharf werden, aber da is‘ wohl nichts mit, was, meine Lieben?“ Außen, an der Seitenwand des Käfigs, hängt eine große Hammelkeule, sie ist derart von Schmeißfliegen inkrustiert, daß nur noch ein grünes Schillern zu sehen ist.

Der Mann geht fast jeden Tag angeln, früher sei's ja unmöglich gewesen, ans Wasser zu kommen. Er sitzt auf einer Landzunge, wartet, bis der Fisch anbeißt, zieht ihn heraus, löst den Haken und wirft ihn zurück ins Wasser. „Das is‘ das reine Gift, so ein Tier“, begründet er, „Sie glauben gar nicht, als wir '45 zurückgekommen sind, da haben wir erst mal alle Mann unsere Uniformen runtergerissen und rein ins Wasser. Das war kristallklar bis auf den Grund... und nun? Nee, da rat‘ ich keinem, reinzuhüpfen!“

Er ist Rentner, die Frau liegt seit fünf Jahren hier auf dem Friedhof, hat auch, wie er, in der LPG gearbeitet. „Hier war ja alles dicht die Jahre. Zweimal, sommers und Herbst, ham sie aufgemacht und uns runtergelassen, damit wir die Wiesen mähen können, da war man dann mit einmal über die Grenze, aber aufgepaßt ham sie genau! Und jetzt sind sie einfach abgehauen, haben alles liegen und stehen lassen. Ne, ne, das ham nicht die abgebaut, die ganzen Grenzzäune hier, das haben die Bauern gemacht, die LPG! Ist ja wertvolles Material, was hier verarbeitet wurde, ich weiß nich wieviel tausend Kilometer weit... das hat ja Millionen gekostet. Wir nehmen es jetzt als Zaun für die Weiden oder im Stall, man kann die Platten auch gut auf den Feldwegen auslegen, so stabil ist das Zeug, daß man mit dem Traktor rüber kann, ohne daß es bricht, sowas is ja gut bei matschigem Wetter.“ Müllkippe

Im Gebiet der Strelitzer Seenplatte fanden wir am Waldrand eine jener wilden Müllkippen, die es hier überall gibt. Leicht verdeckt von einer Böschung, hat man alles abgekippt, was überflüssig war. Anscheinend auch Gülle, wie man dem Geruch entnehmen kann.

Über einem vollkommen ausgeschlachteten Autowrack türmen sich Gemüsekisten und gestreifte Matratzen, aus denen das Seegras quillt. Verrottete Stalltüren mit schmiedeeisernen Beschlägen liegen herum, alte Kinderwagen, eine Holztreppe, Berge von verfaulten Zwiebeln, Kühlschränke, Waschmaschinen, Fahrradteile, Bettgestelle, alte Koffer. Dazwischen, aufgeschichtet und halb verbrannt, Bücher. Zwei halbwegs unbeschädigte ziehe ich heraus. Sie sind vom Regen verbogen, beim Öffnen rieselt Sand heraus. Das eine, mit leicht rosa überhauchtem Titelblatt, ist eine Broschüre: Schlußfolgerungen aus den Beratungen der Partei- und Regierungsdelegationen der DDR und der UdSSR von Walter Ulbricht. Es ist seine Rede für die 11. Tagung des ZK der SED im Juli 1969. Sie beginnt: „Als die Deutsche Demokratische Republik vor 20 Jahren gegründet wurde, ging die Sowjetunion gerade dem 32. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution entgegen...“ und endet: „Wir wünschen der KPdSU und dem Sowjetvolk große Erfolge beim Aufbau des Kommunismus.“

Als zweites habe ich hier ein Lesebuch für die dritte Klasse gefunden mit dem Vermerk „Land“. Erschienen 1964 im Verlag Volk und Wissen. Von Der goldene Sputnik und ein Besuch beim Vorsitzenden unseres Stadtrates über Ernst Thälmann kommt!, Mutter ist eine Aktivistin bis hin zum Besuch bei den Ringelschwänzen ist all das versammelt, was einen Drittklässler auf den Ernst des Lebens vorbereiten hilft. Die letzten beiden Seiten des Lesebuchs belohnen das brave Kind mit einem Märchen Vom glühenden Pfennig. Es wäre so recht dazu angetan gewesen, die Zukunft bereits 1964 düster vorauszuahnen. Der Bauer, der reich werden wollte, schafft es mit Hilfe eines Zaubermännleins. Seine mit übermäßiger Gier zusammengerafften Goldstücke werden aber so heiß, daß von ihrer Glut das ganze Haus niederbrennt. In der Asche findet der verzweifelte Gierschlund nur noch ein einziges Goldstück wieder, „und weil es glühend heiß war, packte er es mit der Zange und sagte: 'Ich habe nun nichts mehr, aber dich will ich doch retten!‘ Er tauchte das Goldstück ins Wasser. Da zischte es. Plötzlich schimmerte es gar nicht mehr so schön golden wie vorher. Der Bauer betrachtete es und erschrak. Aus dem Goldstück war wieder ein Pfennig geworden.“