„Sieg“ und „Heil“ nach dem Glückssieg

Die Bundesrepublik besiegt glückstrunken die Niederlande, und an der Grenze wird die Schlacht weitergeschlagen  ■  Von Bernd Müllender

Grenzland (taz) - Der Holländer als solcher war zum Abschuß freigegeben, vogelfrei, in Acht und Bann, dem Spott schutzlos ausgeliefert, mit Häme überschüttet und auch mal mit deutschem Bier. Wenn Fußball Ersatzkrieg ist, lagen die vordersten Fronten der Schlachtfelder Sonntag nacht an der Grenze nahe Aachen, zwischen dem deutschen Herzogenrath und Kerkrade gegenüber. Tausende hatten sich dort nach dem turbulenten Infarkt-Match versammelt, „wir sind Deutsche und ihr nicht“, gröhlte der in nationales Tuch gehüllte Voll -Pröll glücks- und promilleselig, die Fäuste herübergestreckt, manchmal auch die flache Hand. Flaschen fliegen, Steine, ein Knüppel. Rudi Völler muß gerächt werden, und so spuckt man zielsicher hinterher. Im Hintergrund wedelt ein Knirps mit Schwarzrotgold; wichtig sei, erklärt er, nicht der Sieg, sondern die Niederlage der anderen gegenüber. „Die sind so doof da, die Holländer.“ „Genau, die blöden Käsköppe“, krächzt seine zitternde Oma hinterher.

Die Fremden, Doofen, die anderen, das sind die Nachbarn. Die Grenze zwischen den beiden Städten ist wohl die anachronistischste in ganz Europa. Eine breite, schnurgerade Straße ist genau in der Mitte, auf gut zwei Kilometer Länge, durch ein kniehohes Mäuerlein getrennt. Rechts BRD, links Holland, beidseitig lange Häuserzeilen. Übertreten verboten. Rijksgrens, Staatsgrenze. Europa 90. „Wenn du in Herzogenrath geboren bist“, erklärt eine junge Frau, die sich als Linke versteht, „dann haßt du die Käses da drüben.“ - Warum? - Das sei so. Durch die Geschichte halt.

Die 22. Minute hatte die Gemüter grenzüberschreitend empört. Völler hatte Torwart van Breukelen mit brutalem Vorsatz angesprungen, Frank Rijkaard dem National-Rudi am Ohrläppchen herumgeknibbelt, beide sahen Rot, und auf dem Weg zur Dusche rotzte Rijkaard dem Deutschen schon die Vorwäsche auf die graue Haarpracht. Die deutschen Frontberichterstatter Faßbender und Rummenigge tobten in ungehaltener nationaler Empörung, weil sie, wie alle, keine Rotsünde erkannt hatten, und wollten den argentinischen Schiedsrichter „in die Pampa“ zurückschicken. „Das-ist-ein -Skandal“, keuchte der Westfalen-Kalle etwa elfmal nacheinander, und bei Faßbender hörten wir bei seinen verbalen Hooliganismen das Bärtchen im Zugwind seiner Empörungsrufe stürmisch rauschen.

Im holländischen Fernsehen war man ähnlich ratlos, genauso wie in den restlos überfüllten Kneipen. Vielleicht, erklärt einer beim Halbzeit-Heineken, habe Rijkaard den duitsen Stürmer am Ohr so weit hochziehen wollen, damit der schon mal von Mailand bis tief in die Niederlande herübergucken könne, um zu sehen, wo der kommende Weltmeister wohnt. Das müsse man doch „als Hilfsgeste“ sehen. Man lacht herzlich, ja, diesen Witz hatte man vor zwei Jahren schon: Warum haben die Deutschen Kinder so lange Ohren? Weil sie von ihren Vätern über die Grenze gehoben werden: Seht, meine Kleinen, da drüben wohnt der Europameister. Noch eine Runde Bier, noch steht es Null zu Null. In der Pause Live-Schaltung nach draußen an die Europa-Mauer: „Unheimlich noch diese Ruhe“, vermeldet der niederländische Reporter.

Es gibt keine Gerechtigkeit auf dieser Welt. Wouters, Winter, van Basten und vor allem Gullit, ihr Fußballheld schlechthin, vergeben eine Torchance nach der anderen. Immer schießen sie vorbei, als hätten sie „Moffensausen“ (Lieske) vor dem zappeligen Illgner. Zweimal treffen die Moffen, Schreie des Entsetzens. Nachher nur noch dumpfe Blicke. Es hat wieder nicht gereicht. Für Haß reicht die Machtlosigkeit der Zukurzgekommenen nicht. Der taz-Reporter wird nicht enttarnt, sein Mit-Leid war zu ehrlich.

Kaum ist das Match vorbei, strömen die Massen vors Mäuerchen. Wie schade, daß sie nicht rüberkönnen. Alle Grenzübergänge waren gesperrt, und die Autorität des Betonwalls durch die Leiber von je einer Hundertschaft erhöht. 1988 waren die Holländer strategisch im Vorteil gewesen, weil sie die Begierdeobjekte im eigenen Land hatten: Nebenan im Grenzort Vaals, wo ein Viertel Deutsche wohnen, waren zahllose Autos der Wohnsitz-Okkupatoren mit oranje Farbe beschmiert, ein deutscher Linienbus von den Übermütigen fast umgestürzt, die fahrlässig Zurückgebliebenen mit wilden Tänzen im Dorfkern umringt, Schlafende später aus den Betten geklingelt worden, um ihnen noch einmal das Ergebnis zu verkünden. Umgekehrt 2:1 hatte es damals geheißen, und ganz Holland hatte dies als kleine Wiedergutmachung für das Leid der Nazizeit gefeiert, gegen diese Moffen, die sie so großkotzig finden.

Jetzt die Konter-Rache: Mit begleitendem Klatschstakkato schicken die deutschen Horden ihr „Sieg„-Gebrüll über die Mauer. „Heil“, skandieren die Niederländer zurück. Ein Holländer reißt ein Stück Mauer aus, wirft es nach drüben. Polizei fährt auf, machtlos gegen die gerade einen halben Meter entfernten Gesetzesbrecher. „Gruß Gott, Herr Oberst“, kriegt der Bulle zu hören. Ein kleiner Triumph in der Nacht der Schmach. „Deutschland war besser“, kontert der „Oberst“. Da hätten frustrierte Oranjes fast die Autorität der Mauer vergessen.

Bis drei Uhr nachts ging das Spektakel. „Nur zwei Festnahmen und keine Straßenschlachten“, freut sich gestern der Polizeisprecher. Nichts Strafrelevantes. Nein, nur „Sieg“ und „Heil“. Manchen der Älteren von drüben packt da das Entsetzen, genau 50 Jahre ist es her, daß diese Wortkombination von einer Seite gebrüllt wurde. Den Gaffern auf deutscher Seite - biedere Familienväter, Zierrasenbesitzer, Schichtarbeiter - sehen es als freudiges Spektakel. Auch ihre Augen glänzen. Deutschland in der Nacht. „Lassen wir den jungen Leuten doch den Spaß.“ Währenddessen fahren unaufhörlich Autokarawanen wild hupend an der Grenze entlang, Fahne zeigend und gestreckte Mittelfinger. Wir sind im Viertelfinale. Im Fußball sind wir immer wer. Deutschland. Deutschland.