Chinas mutigster Regimekritiker geht ins Exil

Nach einem Jahr in der US-Botschaft kann Fang Lizhi das Land verlassen / Der Atomphysiker gilt als „Chinas Sacharow“  ■ P O R T R A I T

Am 6.Juni 1989, in den Straßen wurde noch geschossen, flüchtete ein Mann in die Pekinger US-Botschaft, dessen Worte die Machthaber in China so sehr fürchten, daß sie ihm nach dem Leben trachteten. Da sein Name für westliche Ohren ungewohnt klingt, fanden Journalisten ein griffiges Etikett: der „chinesische Sacharow“. Fang Lizhi heißt der Mann, Astrophysiker.

Der am 12.Dezember 1938 als Sohn eines Eisenbahners geborene Fang galt bald als „Wunderkind“. Mit drei Jahren eingeschult, promovierte er als 20jähriger im Fach theoretische Physik in Peking. Er wurde Chinas jüngster Professor, doch nach Maos Kampagne gegen sogenannte „Rechtsabweichler“ 1957 wurde er verbannt und saß während der Kulturrevolution ein Jahr im Gefängnis. Erst 1978 rehabilitiert, setzte Fang seine wissenschaftliche Karriere an Chinas größter technischer Hochschule in Hefei fort. Dort stieg er zum Vizerektor auf und erwarb sich durch seine Forschungen, u.a. über die „Schwarzen Löcher“ des Universums, auch international großes Ansehen. Doch ähnlich wie Sacharow in der Sowjetunion fühlte sich Fang auch für die schwarzen Löcher der chinesischen Gesellschaft verantwortlich. In mutigen Reden analysierte er Mißstände und prangerte die verantwortliche kommunistische Partei öffentlich an. Die Studenten nahmen Fangs Worte begeistert auf, schrieben mit und vervielfältigten sie. Als 1986 die ersten Studentenunruhen ausgerechnet in Hefei ausbrachen, bestand Deng darauf, Fang aus der KP auszuschließen. Er wurde an das Pekinger Observatorium strafversetzt. Auch von dort aus fordert er immer wieder die Achtung der Menschenrechte. In Fangs Worten: „In einer Demokratie müssen zu allererst die grundlegenden Rechte des Einzelnen anerkannt werden.“ In China, wo Regimekritiker nach Schauprozessen in Arbeitslagern verschwinden, ist ein solcher Satz eine mutige Tat. Immer wieder klagt Fang Lizhi in seinen Reden Respekt vor dem Wissen und die Freiheit der Wissenschaft ein. Die ideologische Gängelung, die Fang als Forscher selbst zur Genüge kennenlernte, müsse aufhören: „Die Äußerung des Genossen Mao Zedong über die Intellektuellen, die in Werktätige verwandelt werden müssen, ist falsch. Intellektuelle sind selber Werktätige und bilden die Schicht, auf die wir die meisten Hoffnungen setzen und der die Zukunft gehört.“

Von westlicher Seite sind Fang gelegentlich „nicht ausgereifte Demokratievorstellungen “ vorgeworfen worden. Es ist wahr, daß er etwa in der Frage, ob ein Mehrparteiensystem anzustreben sei, nicht klar Stellung bezieht - anders als Sacharow, der schon in seinem ersten Manifest ein Mehrparteiensystem gefordert hatte. Fang fordert, daß ein Dialog über solche Fragen in China überhaupt erst möglich wird. Viele der Positionen, die Fang Lizhi seit Jahren vertritt, fanden sich in den Forderungen der Studenten wieder. Er selbst hatte sich während des Pekinger Frühlings 1989 deutlich im Hintergrund gehalten. Trotzdem stand er nach dem Massaker ganz oben auf der schwarzen Liste der Diktatur. In einem Telefoninterview vom 4.Juni 1989 sagte Fang Lizhi: „Die demokratische Bewegung hat eine brutale Niederlage erlitten. Aber diese Niederlage trägt in sich die Keime einer neuen, noch größeren Bewegung.“

Henrik Bork