„Wir schicken sie wieder in das Elend“

■ Kinder aus Tschernobyl machen Ferien in der DDR / Ab Juli stehen fast 2.000 Ferienplätze zur Verfügung, aber das Geld wird knapp / Die Währungsumstellung halbiert den Spendentopf / West-Berlins Jugendsenatorin Klein will aktiv werden

Wehrberllin. „Hier ist es schön aber ich freue mich auf Zuhause“. „Hier“ ist für Tatjana, 11 Jahre, das „Kinderland“ am Wehrberlliner See, ihr Zuhause ist in Krasnopolje, nahe Tschernobyl in der Ukraine. Tatjana ist eines der 480 Kinder, die seit Anfang Juni Ferien in der DDR macht. Sie gehört zu der kleinen Gruppe von 30 Kindern die Quartier im weitläufigen Areal der ehemaligen „Pionierrepublik Wilhelm Pieck“ gefunden hat. 120 Kinder wohnen in den Kreisen Bad Freienwalde und Köthen, weitere 320 in und um Weimar.

Zum erstenmal seit vier Jahren kann Tatjana wieder im Gras sitzen, auf Bäume klettern und in einem See baden, zum erstenmal nach dem atomaren Super-Gau. Am Montag fand für die „Berliner“ Kinder am See ein besonderes Ereignis statt. Der Westberliner UFA-Zirkus spielte auf, Jongleure wirbelten die Keulen, Charlie Chaplin fiel über seine großen Füße und die Zirkushunde hüpften dem Dompteur Juppi in die Arme. Die Kinder lachten begeistert, die Pferdeschwänze der Mädchen wippten im Takt des Schlagzeugs und in den Händen schmolzen die Süßigkeiten. Kein Bonbonpapier, kein Eisstiel blieb nach Ende der Vorstellung auf der Erde zurück. „Ich mag die Wiese“, sagt Tatjana und steckt die Papierreste in die Tasche ihres Sommerröckchens.

Zuhause gibt es keinen Zirkus für Kinder. Zuhause, im strahlenverseuchten Gebiet muß sie büßen für technischen Größenwahnsinn und menschliches Versagen anderer. Seit Jahren leben 60.000 Kinder rund um Tschernobyl, wie Häftlinge in geschlossenen Räumen. Sie werden mit Bussen zur und von der Schule gebracht, dürfen sich draußen nur auf frisch asphaltierten Straßen bewegen und auch das nur, wenn anschließend geduscht wird. Sie erfinden neue Spiele wie „Radioaktivität“ und „Evakuierung“. Doch evakuiert wird nicht. Die Pläne, 2,2 Millionen Menschen rund um Tschernobyl in unbelastete Gebiete nahe Bresk umzusiedeln, scheitern an regionalen Intrigen und bürokratischer Inkompetenz. Gerade 3.000 Familien haben eine neue Heimat in einem unbelasteten Gebiet gefunden. Krasnopolje wird daher vielleicht noch lange Tatjanas Zuhause bleiben. Sie wird verseuchtes Obst, Gemüse, Getreide und Fleisch essen müssen, weil unverseuchtes nicht vorhanden ist. Die landwirtschaftliche Produktion wurde 1989 in der hochbelasteten Zone um mehr als das Doppelte gesteigert, weil die Versorgungskrise in der UdSSR die Lebensmittellager auch in Kiew und Minsk leergefegt haben.

Und trotzdem freut sich Tatjana auf ihre Rückfahrt am 2. Juli. Die Eltern haben viel Post aus Wehrberllin erhalten, aber der Briefträger brachte keinen aus der Ukraine. Jetzt hat sie „ein bißchen Heimweh“, der Abschied vom wald- und wasserreichen Wehrberllin wird daher etwas leichter. Die Organisatoren haben dieses Trostpflaster nicht. „Mir wird es ganz schlecht, die Kinder nächste Woche wieder in den Zug zu setzen“, sagt Gabriele Listing, „wir schicken sie wieder in das Elend.“ Sie und Christine Pflugbeil, Mitglieder des „Neuen Forums“, haben diese Ferienaufenthalte initiiert, Geld gesammelt, Unterbringungsmöglichkeiten organisiert und die Kooperation mit dem Westberliner Verein „Mütter und Väter gegen atomare Bedrohung“ in die Wege geleitet.

Die Hilfsbereitschaft ist groß. 500.000 Mark hat das Neue Forum gesammelt, gespendet haben Privatleute und ganze Betriebsbelegschaften. Unterstützt wird die Aktion „Hilfe für die Kinder aus Tschernobyl“ vom Ministerium für Jugend und Sport und von der „Deutsch-sowjetischen Freundschaftsgesellschaft“. Auch der Westberliner Senat will aktiv werden. Jugendsenatorin Anne Klein informierte sich vor Ort. Es geht darum, sagte sie, „den Spendenkreis zu erweitern, damit in diesem Sommer möglichst viele Kinder aus Tschernobyl unbeschwerte Ferien erleben können“.

Ein Aufgabenfeld bietet sich an, denn die Hilfe wird „halbiert“ durch die anstehende Währungsumstellung. Die vorhandenen Gelder reichen aus, um beim momentan noch gültigen Kostenniveau die Fahrt- und Unterbringungskosten für 2.000 Kinder im Juli und August sicherzustellen. Aber was wird nach dem 2.Juli? Die gespendeten Gelder werden nur noch die Hälfte wert sein, die Lebensmittel- und die Unterbringungskosten aber steigen. Werden die Kinder zu Sonderopfern der Westmark, fragt Sebastian Pflugbeil. Anne Klein verspricht sich einzusetzen. Vorstellbar ist eine Aktion „Berlin hilft den Kindern von Tschernobyl“. Die erste Maßnahme müßte eine Berliner Initative in Bonn sein, die Spendengelder von der Umtauschaktion 2:1 auszunehmen.

Das wäre mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Mehr Geld wird aber noch dringend gebraucht. „Wenn wir wollen, daß die Ferienaktion für die Kinder nicht eine vergängliche caritative Maßnahme bleibt“, sagt Bettina Gierke vom Verein „Mütter und Väter gegen atomare Bedrohung“ dann müssen wir helfen, den Kindern um Tschernobyl ein „normales Leben in der Ukraine zu ermöglichen“. Konkrete Projekte sind dem ukrainischen Ministerrat von der belorussischen „Volksfront“ in Minsk vorgelegt worden, das Neue Forum will die Selbsthilfe finanzieren helfen. Gedacht wird an die Errichtung einer Ziegelfabrik, damit in Brest neue Häuser für die Umsiedler gebaut werden können und die Gründung einer Lebensmittelfabrik für unbestrahlte Babynahrung.

aku

Sonderkonto für die „Kinder von Tschernobyl“, Kto.-Nr.: 6400 19862 Sparkasse der Stadt Berlin West (BLZ 100 500 00) oder ab 2.7. „Diakonisches Werk d. evang. Kirche“, Schönhauser Allee 59, Berlin 1058, Kto.-Nr.: 6691 15 285 cod. 249-2511.