Jeder singt für sich allein

■ Zum Gastspiel von John Cages „Europeras 3 & 4“ im Westberliner Hebbel-Theater

Diese Oper findet nicht statt. Sie hat keine Handlung, kein Orchester, kein Bühnenbild, ja nicht einmal eigene Musik. John Cages Europeras ist, wie der Name, spricht man ihn englisch aus, schon sagt, reines Zitat: Your operas, Eure Opern, also unsre, von Gluck bis Puccini, bloß die Mischung ist neu, nämlich reiner Zufall, computergemixt.

Europeras 1 & 2 war 1987 in Frankfurt uraufgeführt worden. Drei Tage vor der geplanten Premiere ging das Opernhaus in Flammen auf; manch einer hielt das für einen typisch Cageschen Zufall, denn schließlich lasen sich die Vorankündigungen zur ersten Oper des Enfant Terrible der Neuen Musik, als stehe da „ein Begräbnis erster Klasse“ (taz 17.12.87) ins Haus. Der Leichenschmaus fand dann im Dezember statt, da gab es immerhin noch eine Handlung - bzw. insgesamt zwölf Versionen in den diversen Programmheften -, ein Orchester - das nach Zufallsoperationen bestimmte Partikel aus dem Opernrepertoire des 18. und 19. Jahrhunderts spielte - und Bühnenbilder: mit Pferd und Badewanne, Seifenblasen und Zeppelin.

Alles Versatzstücke also, und die Sänger gaben Arien nach eigener Wahl. Allerdings bestimmten wieder Computer und Zufall, wer was wann wo zu singen hatte. Und für den richtigen Einsatz sorgte nicht der Dirigent, sondern die Digitaluhr. Europeras 1 & 2 wurde wenig aufgeführt, das aufwendige und kompliziert einzustudierende Werk ließ sich schwerlich ins normale Repertoire aufnehmen, geschweige denn auf Tournee schicken. Vielleicht ist das der Grund für Europeras 3 & 4: die Oper „to end all operas“ im praktischen Taschenformat, Cage im Reiseset gewissermaßen, damit Europa seine Opern auch tatsächlich zu hören bekommt. Nach der Uraufführung in London und dem Gastspiel in Berlin sind Straßburg (Ende September) und die Pariser Bastille -Oper (Anfang Oktober) die nächsten Stationen.

Kein Pferd, keine Seifenblasen, kein Zeppelin - diesmal liefert die Maschinerie selbst das Bühnenbild. Auf sechs Tischen stehen je zwei Grammophone, altmodische Kästen mit je einer Nachttisch- oder Schreibtischlampe versehen, rechts und links zwei Flügel, dazu Scheinwerfer, Verstärker und Kabelrollen, der offene Schnürboden, die häßliche Bühnenrückwand. Rechts, links, vorne und hinten die Bildschirme mit der Digitaluhr. Bei 0.00 geht's los: Die Pianisten spielen Opernbearbeitungen - wieder 18. und 19. Jahrhundert (aus urheberrechtlichen Gründen) -, manchmal nur ein paar Takte, manchmal ein komplettes Finale, die Grammophone werden von sechs „Plattenspielern“ bedient, und dazwischen legen sich sechs Sängerinnen und Sänger ins Zeug. Da vorn schmachtet eine nach dem Geliebten, weiter hinten flirtet die Kokotte, während der Buffo sein dröhnendes Baßgelächter zum besten gibt. Verdi meets Wagner, das Gretchen die Matrone, an den Flügel gelehnt plappert der Bartion parlando im Zeitraffer und rechtsaußen singt Siegmund Sieglinde an, in ihrer Abwesenheit, versteht sich. Jeder singt für sich allein, im Brustton der Überzeugung oder hoffnungslos piano im chaotischen Tutti. Die dramatischen Höhepunkte, die Soli und Quartette, die Kammerstücke und Instrumental-Zwischenspiele: alles garantiert reiner Zufall. Zugleich bedienen die Plattenspieler ungerührt ihre Apparate, packen Schallplatten aus, halten sie ans Licht, legen sie auf, bedächtig eine nach der andern, und blicken auf die Uhr. Die Apparate klacken und schnarren, wenn die schwarzen Scheiben einrasten, dann krächzt es und rauscht und „schöne Stellen“ ertönen.

Derweil feiert die Beleuchtung ihr eigenes Fest. Kann sein, daß die Sängerin ihre Koloratur im Dunkeln vollführt, während der Lichtkegel gerade in eine staubig Ecke des Schnürbodens fällt. Das Schöne daran: Ich kann hören und sehen, was ich will. Europeras, das sind soviele Opern wie Zuschauer im Saal. Während ich gerade die Kantilene der Altistin bewundere, lacht meine Nachbarin über die unfreiwillig komische Kombination von Buffo-Tenor und lyrischem Sopran, der Opernfan hinter mir spielt Erkennen Sie die Melodie, der Neue-Musik-Experte verliert sich im Gewirr der Dissonanzen, die Cage-Gemeinde versucht, den Computer-Operationen auf die Spur zu kommen, und wer sich langweilt, kann auf der Digitaluhr nachgucken, wie lange es noch dauert. Bei Cage ist alles erlaubt: Man mag sich kluge Gedanken machen über das radikal-demokratische Kompositionsprinzip oder über die Kombination von Aufführung und Aufnahme, über „Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ und die Vermarktung von menschlicher Stimme. Man kann aber auch mit wachsendem Vergnügen beobachten, wie der mittlere „Plattenspieler“ jedesmal, wenn er am Lautstärkeknopf dreht, einen kleinen Knick macht oder wie die Sopranistin mit der Stimmgabel ihr zartes Handgelenk traktiert, um sie dann geschlossenen Auges und mit konzentriertem Lächeln zum Ohr zu führen.

Nach 70 Minuten ist der Spuk vorbei, rien ne va plus, das war Europeras 3. Ein Teil des Publikums geht nach Hause, der Rest hat gute Laune.

Europeras 4 dauert noch 30 Minuten und reduziert Cages Opernroulette endgültig auf die Quintessenz. Ein Pianist, zwei Sängerinnen, ein Grammophon. Der Pianist spielt dreifaches piano, fast unhörbar huschen seine Finger über die Tasten, die Grammophonistin kurbelt behutsam an ihrem Holzkasten, als zelebriere sie einen sakrales Ritual. Die Sängerinnen verzichten diesmal auf die Spätromantik, es gibt vor allem frühe Klassik, getragene Lyrik, Klagegesänge und Trauerumwobenes. Sie singen von Schlaf und Liebe und Dunkelheit, manchmal im Finstern und vollständig allein, und man möchte sie erlösen aus ihrer unverschuldeten Einsamkeit, ihnen ihre Partner wiedergeben, das Orchester und das schützende Requisit. Europeras 4 ist Oper nackt und bloß, die großen Gefühle ohne jede Zutat, aber piano und Adagio: Cages opus summum endet wie Mahlers Neunte. Daß schon in Europeras 3 die einzige A-capella-„Solo„-Stelle ausgerechnet aus der Gluckschen Klage um Eurydike bestand und daß Europeras 4 mit eben dieser Klage beginnt, mag wohl kaum ein Zufall sein. Und wenn doch, dann ist es der schönste, den Cages Computer je hervorgebracht hat.

Christiane Peitz