Keine Verlierer in Afghanistan?

Staatspräsident Nadschibullah beweist politisches Geschick / Die „Nationale Versöhnung“ ist ein Kompromißangebot an die jüngere Generation der Mudschaheddin  ■  Von Mostafa Danesch

16 Monate nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan regiert der damals militärisch und politisch totgesagte Präsident Nadschibullah noch immer. Er sitzt sogar fester im Sattel denn je, und hat offenbar gelernt, die Politik der militärischen Intervention durch ein Entwicklungskonzept zu ersetzen, das sich auf die Traditionen Afghanistans stützt: „Wir haben in der Vergangenheit Fehler gemacht. Ich glaube, daß jede politische Maßnahme den Gegebenheiten und Tatsachen in unserem Lande entsprechen muß.“

Wie in kaum einem anderen Land sind in Afghanistan jahrtausendealte soziale Strukturen lebendig. Überformt durch den Kodex des Islam, funktionieren Familien, Stämme und Völker noch immer nach patriarchalischen Prinzipien. Das Amt des Khan geht traditionell vom Vater auf den Sohn über, diese Würde verleiht eine fast unbeschränkte Macht, die jedoch immer wieder kriegerisch verteidigt werden mußte: In den Stammesfehden ging es, jeder gegen jeden, um die lokalen Machtansprüche zwischen Nachbarn, aber alle gemeinsam traten gegen den Anspruch des 1747 aus der Mitte der Stammeseliten gewählten Königtums an. Der König hatte sich mit seinem Auftrag als Schlichter und nationaler Repräsentant nicht zufrieden gegeben und immer wieder den Vorrang der Zentralmacht durchzusetzen versucht. Gemeinsam fochten König und Khane gegen den britischen Kolonialismus und, im Geiste des Islam, gegen alle Modernisierungsideen, die aus dem Westen kamen und die Traditionen bedrohten.

Die Traditionalisten blieben in diesen Konflikten stets siegreich. In drei Kriegen (1842, 1879 und 1919) erstritten sie die Unabhängigkeit Afghanistans vom britischen Imperium. Sie stürzten den fortschrittlichen König Amanullah, der in den zwanziger Jahren den Thron innehatte, und brachten einen Strohmann an die Macht, der alle inneren Reformen rückgängig machte - Verfassung, Schulpflicht, Abschaffung der Sklaverei -, bevor er einem Nachfolger Platz machen mußte, der den Khanen alle angestammten Rechte garantierte.

Keine Experimente also. Zahir Schah, der 1933 den Thron bestieg, regierte das Land 40 Jahre lang zur Zufriedenheit der Loya Jirga, der Ältestenversammlung der Stämme. Als er 1973 von seinem Schwager Daud Khan gestürzt wurde, begann eine Entwicklung, die 1986 in der Sackgasse endete. Die Ausrufung der Republik bedeutete eine unmißverständliche Kampfansage gegen die traditionellen Träger der Macht einen vom Volk gewählten Staatspräsidenten konnten die Stammesfürsten nicht hinnehmen. Die ersten Gruppen der „bewaffneten Opposition“ formierten sich.

Mit der Machtübernahme durch die sozialistische Gruppierung unter Muhammad Taraqi, im April 1978, spitzte sich die Situation zu. Taraqis Reformprogramm stellte alles Überkommene infrage, es umfaßte zentrale Wirtschaftsplanung, Schulreform, Landreform, Befreiung der Frau - aus der Sicht der Traditionalisten waren nun „die Gottlosen“ an der Macht. Und in einer islamisch-patriarchalisch geprägten Gesellschaft waren die Neuerungen schwer zu vermitteln: Die Abschaffung des Großgrundbesitzes wurde sogar von den landlosen Pächtern und den 97 Prozent der Bauern, die weniger als zwei Hektar besaßen, mit Skepsis aufgenommen.

Der Widerstand der Khane fand eine erweiterte Basis und wurde zum Volkswiderstand gegen die „Erziehungsdiktatur“, weil nicht nur die Machtstellung der Stammesführer und der Familienältesten bedroht war, sondern der traditionelle Verhaltenskodex insgesamt. Die „Aprilrevolutionäre“ hätten gewarnt sein müssen. Es waren keine 50 Jahre vergangen, seit König Amanullahs Modernisierungsprogramm am Volkswiderstand gescheitert war, den die Konservativen geschürt hatten. Aber man glaubte, mit militärischer Unterstützung durch die Sowjetunion die „bewaffnete Opposition“ besiegen zu können. Damit wurde jedoch ein weiteres traditionelles Motiv afghanischen Widerstands gestärkt: der Wille zur nationalen Unabhängigkeit.

Im „Heiligen Krieg“ bündelten sich alle Widerstandspotentiale der afghanischen Gesellschaft. Der Versuch, den Fortschritt militärisch durchzusetzen, verkehrte ihn in sein Gegenteil. Statt Landreform verbrannte Dörfer, statt Schulreform Kinder unter Waffen und zerstörte Schulen, statt Frauenbefreiung verkrüppelte Frauen in den Krankenhäusern. Das Land drohte in Schutt und Asche zu versinken.

1986, nicht zufällig zum Zeitpunkt der Wende in der sowjetischen Außenpolitik, löst Nadschibullah den damals amtierenden Präsidenten Babrak Karmal ab. Sein Programm war nicht auf Kapitulation eingestellt, es trug vielmehr der aktuellen Lage Rechnung und versuchte, ein Widerstandsmotiv nach dem anderen zu eliminieren, um so aus der Sackgasse herauszukommen. Zunächst betrieb Nadschibullah, im Einvernehmen mit der Sowjetunion, die „Nationalisierung“ des Konflikts, in der Hoffnung, allein mit afghanischen Regierungstruppen die militärischen Voraussetzungen für eine politische Lösung erhalten zu können. Tatsächlich hielten sich die Regierungsstreitkräfte nicht schlecht. Der Abzug der Besatzungstruppen hatte der Opposition ein wichtiges Mobilisierungsmoment geraubt, das nationale Motiv kehrte sich nun gegen die Mudjaheddin, vor allem gegen ihre Exilkräfte, die nach wie vor mit Unterstützung der pakistanischen Armee, saudiarabischen und anderen Söldnern operieren.

Nadschibullah hat die radikalen Reformen (vor allem Zwangsalphabetisierung, Schleierverbot und den gemeinsamen Schulbesuch von Jungen und Mädchen) suspendiert und zeigt in seinem Auftreten Respekt vor den Gepflogenheiten und Autoritätsstrukturen der traditionellen Gesellschaft. Er macht bewußt Konzessionen an den Nationalismus. Von den 25 Ministern in seinem neuen Kabinett sind 19 parteilos - auch der Premierminister Fazel hag Khalegyar. Zum zweiten Mal hat Nadschibullah nun die Loya Jirga, die Versammlung der Stammesältesten einberufen, sie soll eine Verfassung (mit traditionell islamischer Ausrichtung) verabschieden.

Nadschibullahs Konzept der „Nationalen Aussöhnung“ bedeutet die Rücknahme des absoluten Machtanspruchs der Regierung in Kabul, aber keineswegs die vollständige Rückkehr zu den althergebrachten Strukturen. Zehn Jahre Krieg haben auch die „bewaffnete Opposition“ verändert. Es ist eine neue Führungsschicht, der die Regierung das Angebot lokaler Autonomie macht: die Feldkommandanten der Mudjaheddin unterscheiden sich wesentlich von früheren Repräsentanten der Stämme. Eine jüngere Generation ist in die Verantwortung gewachsen, besser ausgebildet, oft in modernen Berufen. Einige der Führer sind Ingenieure, haben Erfahrungen im westlichen Ausland gesammelt und sind vertraut mit moderner Technologie, und sei es nur durch das Kriegsgerät. Im Unterschied zu den älteren Khanen des Exils haben sie im Lande selbst gekämpft, und das gibt ihnen ein besonderes Selbstbewußtsein.

Die Einbeziehung dieser Kräfte in den nationalen Verständigungsprozeß bedeutet eine zunehmende Isolierung der Generation der Exilpolitiker. Wie realistisch diese Einschätzung der Regierung in Kabul ist, zeigt sich auch darin, daß die USA ihre Unterstützung auf die Feldkommandanten verlagern. Nadschibullah ist es gelungen, an Glaubwürdigkeit zu gewinnen und Abkommen mit den Kommandanten zu treffen. Er hat die neue Führungsschicht des Widerstands bereits aufgefordert, Mitverantwortung für das Land zu übernehmen und in die Regierung einzutreten.

Alles andere als eine Kapitulation also: Diese Politik will die Rückkehr Afghanistans zu vormodernen Verhältnissen verhindern und Strukturen schaffen, in denen alle Kräfte Inhalt und Tempo des weiteren Entwicklungsprozesses mitbestimmen können. So kann Nadschibullah nicht ganz unbegründet der Opposition entgegenhalten: „Wenn die Gegenpartei dieses Programm nicht versteht, sind diese Leute schlechte Politiker.“