Kassandra muß Athene werden

Appell eines grünen Stammwählers an Dezember-Wähler  ■ Z U R D E B A T T E

Als vor zehn Jahren in Karlsruhe die Grünen gegründet wurden, war die Welt noch in Ordnung. SPD-Kanzler Helmut Schmidt hatte seinen Nato-Doppelbeschluß erfunden, „Ökologie“ klang noch nach Vogelkunde und „Tschernobyl“ war ein Punkt auf der ukrainischen Landkarte. Heute dagegen kümmert sich der Bundesumweltminister persönlich um die Frage, ob auch leere Thunfischdosen von den Supermärkten zurückgenommen werden müssen, erproben internationale Konzerne Möglichkeiten, aus gebrauchten Baby-Pampers im Recyclingverfahren Dämmaterial für die Bauwirtschaft zu gewinnen, gibt die bundesdeutsche Wirtschaft insgesamt weit über zwanzig Milliarden D-Mark pro Jahr für Investitionen aus, die dem Umweltschutz dienen sollen.

Gleichwohl schreitet der Zerstörungsprozeß von Natur und Umwelt schier unaufhaltsam voran. Trotz des rasanten öffentlichen Bewußtseinswandels, trotz weltweiter Umwelt-PR, Greenpeace und Öko-Sponsoring, trotz „Klimagipfel“, Nordsee und Regenwaldkonferenzen, verschärften EG-Richtlinien und Appellen an die Weltbevölkerung, Vernunft walten zu lassen und kein Trinkwasser in leeren Pestizidbehältern von BayerHoechstBASF zu transportieren, breitet sich der pure Wahnsinn beständig aus. Längst ist das Strafregister zur Litanei geworden, und die tägliche Zeitungslektüre bietet Anlaß für spontane Erregung und das persönliche Katastrophenmanagement eines aufgeklärten Zynismus: Apocalypse now.

Als die Grünen zum politischen Faktor wurden, waren sie Außenseiter, weil sie in radikalen Worten vor der ökologischen Katastrophe warnten. Ein gutes Jahrzehnt später stehen sie wieder am Rand der politischen Entwicklungen, gerade weil ihre Kassandra-Rufe nun Wirklichkeit zu werden beginnen. Längst ist offenkundig, daß die Grünen mit ihren politischen Erfolgen nicht fertig werden. Im Augenblick, da die Beschreibung ökologischer Schreckens-Szenarien auf unterschiedlichste Weise zur unmittelbaren politischen Herausforderung wird, entscheidet sich die Mehrheit der Grünen für die Beibehaltung der Kassandra-Rolle, für das Post-68er-Modell des ständig verschärften Rechtbehaltens mit eingebauter „scala mobile“ erdverbundener Selbstberuhigung: Solange die Feindlage stimmt, ist der Kurs goldrichtig. Die Turbulenzen in der grünen Deutschlandpolitik rührten ausschließlich von der Verwirrung und Durchbrechung des alten Frontensystems. Die Blockauflösung - eine urgrüne Forderung - wurde Wirklichkeit; den Grünen jedoch machte sie zunächst einmal Angst. Noch in der Dortmunder Bundesversammlung unterlag ein Antrag nur knapp, in dem der Kapitalismus für den DDR-Stalinismus und seine sozialökologische Folgen verantwortlich gemacht wurde. Nach gutem Zureden konnten sich schließlich die Delegierten der grünen Basis darauf verständigen, den absolut unübersehbaren Teil der aktuellen Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen: den Vereinigungsprozeß der beiden deutschen Staaten.

Doch schon die Wahl des neuen Sprechertriumvirats dokumentierte den Drang zur zeitlos grünen Politikidylle zwischen Treibhauseffekt und Tradition im Kreisverband. Die ökosozialistische Revolution ist ausgefallen, aber das „Prinzip Hoffnung“ verläßt die Rechtgläubigen nie - vielmehr stellt es sich flexibel auf die Verhältnisse ein: je schlechter sie sind, desto besser für die Utopie. „Weder hat der Kapitalismus gesiegt, noch ist der Sozialismus unterlegen (weil es keiner war)“, schreibt die neue Vorstandssprecherin Renate Damus in der „Kommune“ (4/90) trotzig. Nach wie vor will sie die „Systemfrage“ stellen nun aber auf der „Gattungsebene“. Von Zwischenantworten, die im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts erarbeitet wurden, redet sie nicht. Noch weniger interessiert sich Christian Ströbele für die tatsächlichen Möglichkeiten, etwa die ökologische Zeitbombe der maroden Kanalisationssysteme (geschätzte Sanierungskosten 100 Milliarden D-Mark) zu entschärfen, die weltweite Giftmüllawine einzudämmen oder die verheerende Vernichtung fruchtbaren Bodens (in der UdSSR bereits 50 Prozent!) zu stoppen. Ganz zu schweigen vom Gattungsproblem der globalen Bevölkerungsexplosion. Entscheidend ist, daß die Grünen eine „linke Partei“ sind, die mit diesen und anderen Stichworten unermüdlich die ewig junge „Systemfrage“ stellt.

Die schwindende Attraktivität der Partei gerade unter den Dreißig- bis Vierzigjährigen ist das Resultat dieser intellektuell äußerst schlichten und politisch absurden Logik des symbolischen Aktionismus, der mit jedem Tag lebendiger Gegenwart ein Stück lächerlicher wird. Die bis zur Unerträglichkeit wiederholten Rituale grüner Wahrheitsfindung sind derart resistent gegen jede gesellschaftliche Wirklichkeit, daß auch triftige Argumente der Grünen in der politischen Auseinandersetzung keine Durchschlagskraft mehr entwickeln.

Es kommt auf den Kontext der Argumentation an. Wer die „Gattungsfrage“ tatsächlich zum Angelpunkt machen will, muß sich auf die Perspektive eines radikalen Pragmatismus einstellen. Die industrielle Risikogesellschaft kennt keine Sollbruchstelle des „Systems“ mehr, sondern nur eine Alternative: den Versuch einer demokratischen Selbstbegrenzung der Industriegesellschaft oder die Katastrophe der Zivilisation. In ganz Osteuropa wie in Lateinamerika und den revoltierenden afrikanischen Staaten zeigt sich, wie eng der Zusammenhang zwischen ökonomischer Ausbeutung, ökologischer Zerstörung und politischer Unfreiheit ist - quer zur ideologischen „Systemfrage“ marxistischer oder rechtspopulistischer Ein-Mann -Diktaturen.

Wer angesichts der ungeheuren globalen Herausforderung weder in puren Zynismus noch in pseudopolitische Religiosität flüchten will, muß die faktischen Probleme auch dort annehmen, wo sie unlösbar scheinen. Wer vor der realen Zuspitzung flieht, die er selbst prophezeit, verliert nicht nur Handlungsmöglichkeiten, sondern wird politisch blind.

So nimmt offensichtlich eine Mehrheit der grünen Partei weder die Chancen der weltweiten Ent-Ideologisierung für Demokratie und Abrüstung, Umwelt- und Entwicklungspolitik wahr - noch den sich daraus ergebenden „Zwang“, den Prozeß voranzutreiben, sich mit der Dynamik des Geschichtsprozesses zu verbünden und den neuen Realitäten Sprache zu verleihen.

Was die Grünen in ihrer Gründungsphase ausgezeichnet und zum Schrecken der etablierten Parteien hat werden lassen, könnte heute - unter veränderten Bedingungen - ihre neue Perspektive ausmachen. Denn so gewiß alte Ideologiefronten zerbrochen sind, werden neue Formen von Lüge und Verschleierung nicht auf sich warten lassen. Die Grünen sollten zu der politischen Kraft werden, die - ohne Selbstgerechtigkeit und protestantische Larmoyanz - den Selbstbehauptungswillen einer demokratischen Gesellschaft ausdrückt, die weiß, was die Stunde geschlagen hat und ihre Interessen gegen ökonomische Lobbys und die Ideologien der politischen Klasse zu verteidigen weiß.

Kassandra muß Athene werden.

Reinhard Mohr