„Es muß eine Gegenöffentlichkeit her“

Die grüne Europaabgeordnete Birgit Cramon-Daiber aus Berlin zur Behebung des „Demokratie-Defizits“ in der EG  ■ I N T E R V I E W

taz: Wie fühlst du dich als Europaparlamentarierin?

Cramon-Daiber: Man kann sich hier immer unheimlich wichtig fühlen. Gerade die Ferne des Europaparlaments (EP) zu einer regionalen und selbst nationalen Öffentlichkeit hat zur Folge, daß die ParlamentarierInnen geneigt sind, ihre individuellen Schrullen etwas stärker auszuleben, als das unter den Augen der Öffentlichkeit der Fall wäre. Man muß sich vorstellen, daß Fraktionssitzungen hier nicht einfach unendliche Versammlungen sind, sondern daß ein ungeheurer Aufwand betrieben wird, um diese Treffen in neun Sprachen abhalten zu können.

Das ständige Hin-und-her-Gefahre, der häufige Leerlauf, all die Mühen sind doch recht frustrierend, wenn der Ministerrat zu guter Letzt entscheidet, wie er will. Warum machen die ParlamentarierInnen diese Tretmühle mit?

Also, ich nehme an, daß viele Leute hier den EP-Job mitnehmen als Reputation für ihre politische Arbeit zu Hause. Es gibt relativ wenige, die versuchen, ernsthaft in dieser Rädchenarbeit mitzuwirken. Ich weiß nicht, wie das persönlich verarbeitet wird. Aber ich weiß von KollegInnen, daß sie immer darauf hoffen, über einen Änderungsantrag oder geschicktes Taktieren mit der EG-Kommission oder mit dem Ministerrat doch noch etwas zu erreichen. Aber das Grundproblem bei dieser Art von Politik ist, daß du immer nur kleine Korrekturen machen kannst. Eine gewisse Hoffnung habe ich, daß sich die viele Arbeit, die Informationsverarbeitung und Kritik, die ich hier machen muß, in regionale und nationale kritische Politik umsetzen läßt.

Das EP soll ja jetzt mehr Macht erhalten...

Es gibt Bestrebungen im EP, zu sagen, wir wollen aus dieser Machtlosigkeit heraus, wir wollen im Zuge der politischen Union, daß dieses EP so funktioniert, wie bis jetzt noch halbwegs die nationalen Parlamente. Das EP soll gesetzgeberische Kompetenzen bekommen. Dies halte ich aber für eine fragwürdige Lösung, weil das bedeuten würde, daß ein strikter EG-Zentralismus eingeführt wird. Ich glaube, daß es sehr viel sinnvoller wäre, auf der institutionellen Ebene dem Europarat, in dem ja nicht nur die EG-Staaten vertreten sind, gleichrangige Bedeutung und Entscheidungskompetenzen wie dem EP zu geben. (Im 1949 gegründeten Europarat sind 23 Staaten vertreten. Bislang beschäftigte er sich hauptsächlich mit Menschenrechtsfragen. Seit den Revolutionen in Mittelosteuropa gewinnt der Europarat jedoch als erstes potentiell gesamteuropäisches Gremium auch politisch Bedeutung; die Redaktion.) Eine schlichte zentralistische, formal-demokratische Aufwertung würde außerdem an der lautlosen Ferne der Machtentscheidungen in Brüssel gar nichts ändern. Statt dessen müssen wir überlegen, wie denn überhaupt Öffentlichkeit für europäische Belange in Europa herstellbar ist.

Was ist denn deine Alternative?

Bis jetzt gibt es einen feudal agierenden Ministerrat, eine äußerst effiziente EG-Kommission und ein schwaches Parlament in Brüssel. Wenn ich Demokratieanforderungen stelle, so frage ich nicht bloß, wie kann das hübsch formalisiert werden. Fakt ist, daß etliche gesellschaftliche Probleme soziale Ungerechtigkeit, Gewaltpolitik gegen AusländerInnen, Zerstörung der Umwelt - durch die EG-Politik produziert werden. Es muß also eine Gegenöffentlichkeit der EG -Betroffenen her. Umweltschutz-, VerbraucherInnen-, Frauenorganisationen, amnesty international, Gen-Tech -KritikerInnen müssen in die Lage versetzt werden, antilobbyistisch und im Sinne direkter Demokratie gegenüber Brüssel zu arbeiten. Brüssel muß in allen seine Institutionen die Begrenztheit und Korrekturwürdigkeit seiner Politik begreifen lernen. Und das tut es sicher nicht ganz freiwillig, auch nicht durch eine stärkere Kontrolle. In dieser spezialisierten und von außen eigentlich nur noch von Betroffenen wahrnehmbaren Entscheidungsstrukturen der modernen Welt ist es notwendig, daß Beteiligungs- und Kontrollgremien geschaffen werden, die nicht mit der parlamentarischen Demokratie übereinstimmen, weil auch die Parlamente Teil dieser Expertensysteme sind.

Gibt es eine Chance, daß Ansätze dieser Art in die jetzt laufenden Demokratisierungsdebatte der EG Eingang finden?

Es ist ein oppositioneller Ansatz, der im EP kein Gewicht hat. Trotzdem gibt uns die jetzige Demokratisierungsdiskussion die Chance, eine Gegenöffentlichkeit herzustellen.

Interview: Michael Bullard