FREUNDLICHER TROST

■ Gorkis „Nachtasyl“ im Deutschen Theater

Etwas wie schwarze Seide, ein Stoff, mit dem man sonst wohl Särge ausschlägt, verhängt düster die Bühne. Mit ganz dünner roter Schreibschrift steht „Nachtasyl“ darauf geschrieben. Noch einmal aber wird das Antlitz der Bühne entschleiert. Man erkennt zögernd Gorkis Asyl, „ein Keller, einer Höhle gleich, die Decke - ein lastendes steinernes Gewölbe...“, aber ungeheuer vergrößert, ganz die Tiefe des Raums einnehmend. Hochgebaute kahle Wände markieren einen unfertigen Rohbau, mit Plastikfolien abgedeckt und gegen die rauhe Witterung geschützt. Sichtlich wurden die Bauarbeiten irgendwann eingestellt.

Die übrigen Dinge, von den Urbildern aus Gorkis Szenenanweisung durch ihre gediegene Aktualisierung entfernt, aber deutlich von ihnen abstammend (ein ausgeschlachteter Fernseher anstelle eines Holzklotzes ect.), schrumpfen in der Weite zum verstreuten Gerümpel.

Alle voneinander geschieden, abgetrennt und allein, in ihren Phantasien und Lügen, durch verschiedene Herkunft und besonderes Scheitern, sind auch die Personen des Stücks. Zur Charakterisierung der einen dient eine andere. Die Regie von Frido Solter überzüchtet diese Anlage so weit, bis eine belustigende Ausstellung charakteristischer Sonderlinge herauskommt. Hart an der Rampe werden die Schauspieler zum Sprechen aufgestellt, und was sie sich als Rolle erarbeitet haben, muß als Nummer abgezogen werden. Der Blick kann sich aus dieser Einstellung nicht mehr lösen, egal ob es sich um das Zirkusstückchen handelt, wo der Straßendieb (Daniel Morgenroth) dem Ex-Baron als Hündchen (Sewan Latchinian) nach Geldscheinen schnappen läßt oder Wassilissa (Franziska Hayner), die Frau des Asylbesitzers (Horst Lebinsky) und die Geliebte des Diebes, mit entblößtem rechtem Busen vorbeikrabbelt und den Herren in der ersten Reihe über die glänzenden Stirnen streift. Selbst die sterbende Anna, über zwei Akte hinweg laut röchelnd in der Bühnenmitte plaziert, wird zum endgültigen Sterben einmal ganz nach vorne gekarrt.

Der „Agent provocateur“ ist der „Pilger“ Luka (Otto Mellies), eine Verkörperung aller fatalen humanitär -christlichen Vertröster. Gorki selbst war mit der Figur unzufrieden, aus Bedenken, sie könnte so zweideutig bleiben, wie es hier passiert. Indem er den Leidenden freundlichere Asyle (eine kostenlose Trinkerheilanstalt, ehrliche Arbeit etc.) in der Ferne vormacht, gehen die Opfer tatsächlich an der aufgedeckten Wahrheit zugrunde oder, wie im eingebauten Beziehungsdrama, an der eifersüchtigen Gewalt der anderen. Aber erst mal fühlen sie sich wie die romanlesende Prostituierte Nastja oder die sterbende Anna liebevoll getröstet. Der Falschspieler Satin (Michael Walke) nennt Luka den „Brei für die Zahnlosen“. Zwar glaubt man auch hier nach zwei Sätzen Salbung Lukas, Kulenkampffs Nachtgedanken hätten einen vor dem Ausschalten erwischt, aber der eigentliche Widerpart, jener Satin, der im letzten Akt in ein paar luziden Augenblicken die Phrasen des Alten einer neuen Lesart unterwirft, der kämpferisch das „Bessere“ „wirklich“ haben will, ein Vorläufer der klassenbewußten Proletarier aus Gorkis Feinde - der wird in der postrevolutionären DDR als sympathisches Saufloch, das sich zum bierseligen Pathos aufgeschwungen hat, verabschiedet.

Als die tatsächlich „bedeutendste“ Figur bleibt jener gescheiterte „Schauspieler“ (Axel Wandtke) übrig, einst Totengräber in Hamlet, jetzt „vom Alkohol vergiftet“, sich selbst zu Grabe tragend. Mitunter deklamiert er, ungestört von Desinteresse und Ignoranz der andren und behindert nur durch eigene Vergeßlichkeit, in klassischer Hamlet-Pose seinen Monolog. „Unsere Netze bargen einen Leichnam.“ Dichter noch als die andren plaziert er sich seiltänzerisch an der Rampe. Natürlich fällt er schwankend fast ins Publikum, das sich freut. Der Vierte Stand durch die Vierte Wand.

Nochmalige Vergrößerung. Das ganze Theater scheint jetzt das Asyl zu sein. Letzteres kommt immer mehr herunter. Alte Autoreifen häufen sich auf der Bühne und dienen als Sitzecke, im Hintergrund kokelt eine angesteckte Mülltonne. Auf diesem Gelände gibt es dann doch eine großartige Nummer von Bärbel Bolle als Nastja: Emanzipiert ein wenig von Baron und Freier, „dem Wurm in ihren Apfel“, springt sie auf einem Autositz herum und verwandelt sich in einem tobenden Affen. Die Fluchtlinie ist das Tierwerden.

Sonst ist man geneigt zu verstehen: Die Baustelle war die deutsche demokratische. Als sollte von allen gefährdeten Theatern ausgerechnet das „Deutsche“ geschlossen werden, präsentiert es sich selbst als Asyl und setzt Gorkis Text wehleidig als Kabinettstückchen für Schauspieler in Szene. Durch das Stück, mit dem das Lumpenproletariat Eingang ins russische Theater fand, hat es auch wieder seinen Ausgang gefunden.

Ralf Fiedler

Nächste Vorstellung: 3. Juli