DER PROFI-GAST

Nachruhm eines Sollschmarotzers  ■ H E L D E N D E R A R B E I T

Auch wenn Beerdigungen nicht unbedingt zu den schönsten Dingen im Leben zählen, gilt es, vorbehaltlos die Prächtigkeit einzuräumen, mit der am letzten Mittwoch die Bestattung von Phillip Ruf zelebriert wurde. Blumen über Blumen, ein Meer von Blumen; ein Sarg aus nordamerikanischer Roteiche (massiv); vor dem Friedhofstor livrierte Chauffeure; deren Herrschaften, in zeitlos dunkler Eleganz, am Grab von Phillip Ruf. Eine Gesellschaft, wie sie in Berlin nur zu höchst seltenen Anlässen zusammenkommt.

„Herr, sei auch Du, in Deinem Reich, diesem weitgereisten Gast ein letzter gütiger Gastgeber“, hatte der Pfarrer in seiner Grabrede monologisierend den Allmächtigen ersucht, und die Versammelten hatten ein „Amen“ hinzugefügt. Dann war die letzte Behausung ganz ohne Kippeln, also in tadelloser Horizontale, hinabgeglitten, und alle Anwesenden hatten mit drei Fingerspitzen Erde den Sarg von Phillip Ruf symbolisch bedeckt: Dahingegangen ist er, einer der letzten professionellen Gäste.

„Die Heide, da drüben, die Brünette mit den hellen Strähnen, die war die erste, die ein Auto hatte. Einen VW, Mitte der Fünfziger.“ Heidi ist heute selbst in der Mitte der Fünfziger und sieht gut aus. Eine souveräne Erscheinung inmitten dieses Geldadels der ersten, bestenfalls der zweiten Generation, der sich zum Leichenschmaus im Hotel (Grand) - „Esplanade“ eingefunden hat.

„Tochter aus traditionellem Berliner Schokoladenhaus später von Suchard oder so aufgekauft“, erläutert meine Gesprächspartnerin die kurze Filiationslinie von Heidi. „Wir waren eine Clique von acht Leuten, und dann sind wir alle in Heidis VW rein. Zu acht. Das war ein Mordsspaß. Und dann raus zum See. Konnte man ja damals noch. Vor die Tore Berlins. Kann man ja heute auch wieder, aber das ist inzwischen eben etwas anderes...“

Gemäß meinem vor sechs Wochen gefaßten Entschluß, um nichts in der Welt und mit niemandem über die DDR oder Deutsch -Deutsches zu reden, lenke ich das Gespräch aus den Niederungen der Havelseen heraus.

„Ob Phillip Ruf damals schon dabei war? Aber sicher“, willigt meine Gegenüber in das Thema ein. „Seine Anwesenheit war schon damals begehrt. Denn Heidi war bald nicht mehr die einzige, die ein Auto hatte. Bald fuhr jeder mit seinem eigenen Wagen zum Treff am See hinaus. Das war dann schon nicht mehr so vergnüglich und setzte sich später fort: Heidi hatte als erste eine eigene Wohnung. Also trafen sich alle dort. Später hatte jeder eine eigene Wohnung, und man traf sich erst wieder vereint, als Herbert der erste war, der ein Haus hatte, und das gleich mit Swimmingpool. Dann besaß jeder ein Haus, und man mußte schon mit seinem besonders feinen Ferienhaus im Ausland locken, um eine stattliche Zahl angenehmer Gäste zusammenzubekommen...“

„Das führte zu den abstrusesten Telefondialogen“, erinnert sich der stadtbekannte Immobilienhändler Herbert B., der sich unserem Gespräch hinzugesellt. „Einmal haben wir, also meine Frau und ich, ein befreundetes Ehepaar in unser Ferienhaus in die Bretagne eingeladen. Ob wir denn inzwischen dort einen eigenen Tennisplatz hätten, wurde ich gefragt. Nein, habe ich gesagt, aber das verglaste Schwimmbad auf der Terrasse sei endlich fertig, und außerdem gäb's jetzt ein Billard in der Bibliothek. Der Tennisplatz sei erst für das nächste Jahr geplant. Dann würden sie vielleicht im nächsten Jahr kommen, hat mir der Eingeladene erklärt. Billard sei sowieso nicht seine Sache, und einen beheizten Pool hätten sie in ihrem Haus auf La Palma auch.“ Herbert B. muß jetzt noch laut und jovial über diese Geschichte lachen.

„Und der verstorbene Phillip Ruf, welche Rolle hatte er in diesem geselligen Spiel?“ will ich wissen.

Herbert B. ist erstaunt über meine Frage: „Ja verstehen Sie denn nicht? Phillip war der einzige in unserem Kreis, der weder einen eigenen Wagen noch ein Stadt-, geschweige denn ein Landhaus hatte. Er wäre ein Objekt unserer obsessiven Gastfreundschaft geworden, hätte er nicht über eine so ausgeprägte Persönlichkeit verfügt. So aber wurde er das, was es heute so gut wie gar nicht mehr gibt: ein souveräner Gast, nicht wahr, Agnes?“

Agnes, meine Gesprächspartnerin, hebt das Glas mit dieser feinperligen Flüssigkeit aus Frankreich - ihr viertes, seit wir zusammenstehen - und sagt: „Herbert, wie schön du das wieder gesagt hast. Das tät‘ den Phillip aber freuen.“

„Phillip Ruf war der empfindlichste Spiegel für einen anspruchsvollen Gastgeber.“ Herbert B. kommt, eitel beflügelt, in Redefahrt. „Nicht nur, daß er, vom Handkuß bis zum salopp schmerzfreien Schulterschlag, das gesamte Repertoire körpersprachlicher Entäußerungen beherrschte. Mit Eleganz, versteht sich. Leistungsstark waren vor allem seine Gastgeschenke. Nichts Aufdringliches, nichts, was er bei seinem nächsten Besuch wiedererkennen wollte. Vielmehr plauderte er im Laufe des Beisammenseins beiläufig über den Brauch gewisser afrikanischer Stämme, die - nicht nur in materieller Hinsicht - besonders wertvolle Geschenke weiterverschenken. Einmal brachte er mir ein Buch mit, ich habe den Titel vergessen. In einem leichten, lockeren Ton referierte er mir den Inhalt dieses Buches - ich glaube, es war die Autobiographie eines italienischen Politikers, also recht kompliziert -, ja also, er beschrieb das so bildhaft, daß ich das Buch gar nicht mehr zu lesen brauchte. Mit einigen eigenen nützlichen Inhaltshinweisen habe ich es tatsächlich noch im gleichen Geschenkpapier weiterverschenken können.“

Zufrieden mit der Vergangenheit, steckt sich Herbert B. ein Lachsröllchen (italienisch) mit Dillspitzen in den Mund. Die lachstragende, nun entlastete Weißbrotscheibe legt er dem wartenden Kellner auf sein Tablett zurück. Mit halbvollem Mund fährt er fort: „Unangestrengtes geistvolles Plaudern mit Phillip Ruf ließ die Zeit verschwinden. Ich entsinne mich noch, wie es ihm einmal auf brillante Art gelang, einen wirklichen Inhalt in die aktuell-politische Kolumne einer linken Tageszeitung hineinzuinterpretieren. Schlafwandlerisch konnte er Reich-Ranicki stilistisch von Raddatz unterscheiden. Egal ob Musik, Literatur, Geschichte, Politik, Theater oder, wenn es sein mußte, auch Sport: das alles waren selbstverständlich geläufige Themen für Phillip. Aber wirklich herausragend war vor allem sein Einfühlungsvermögen. Mit welch anregendem Verständnis er Neuerungen, die man ihm vorführte, goutieren konnte. Egal, ob es eine gerade erworbene Segelyacht, das Jagdhäuschen in Kanada oder das ersteigerte Toscana-Weingut war: stets hatte er ein kompetentes Interesse an den kleinen Schwächen seiner Gastgeber. Denn wissen Sie, das neidische Desinteresse im Bekanntenkreis kann mitunter schon recht einsam machen.“

„Und so war Phillip auch eine Art Kommunikationsmedium“, schaltet sich Agnes, inzwischen offensichtlich leicht angetrunken, in das Memorial ein. „Weil wir uns ja nun selten gegenseitig besuchen, aber doch noch irgendwie irgendwas miteinander zu tun haben, haben wir immer über Phillip erfahren, was die anderen so machen.“

„In aller Diskretion der Äußerung, versteht sich“, relativiert Herbert B. „Denn Phillip war die personifizierte Diskretion. Ohne Strenge dabei. Einfach selbstverständlich. Und so konnte man ihn mitunter auch bei eigener Abwesenheit als Gast bitten. Einmal hatten meine Frau und ich Phillip zu einer gemeinsamen Seereise eingeladen. Leider wurde ich beruflich aufgehalten. Früher wäre meine Frau darüber sicherlich verärgert gewesen. Aber so. Die beiden sind halt vorausgefahren, und ich bin später zugestiegen. Empfangen wurde ich von einer wirklich harmonischen Atmosphäre.“

„Mir ist unklar, wie Phillip Ruf das alles zeitlich überhaupt ermöglichen konnte. Hatte er denn keinen Beruf? Oder hatte er Vermögen?“ will ich wissen.

Herbert B. lacht. „Nein, für einen Beruf hatte Phillip keine Zeit. Und Vermögen hatte er auch nicht. Ich hatte ihm auf Lebzeiten eine Eigentumswohnung überlassen. Dort war er aber kaum. Denn meistens war er unterwegs - als Gast.“

„Ja, der Phillip“, kichert Agnes halb schluchzend. „So etwas gibt es nicht noch einmal. Ich habe vorgestern - ich muß es euch gestehen - eine seriöse Hostessenagentur bemüht. Die haben mir einen gutaussehenden Medizinstudenten geschickt. Etwas langweilig. Das einzig Unterhaltende an ihm war seine Theorie, warum Phillip eine Leberzirrhose hatte und so plötzlich am Magendurchbruch gestorben ist.“

Als sich ihr Gespräch von den Fauxpas des Profan-Gastes im allgemeinen zu den Benimmformen unserer ostdeutschen Ehemalsnachbarn im besonderen hinabschaukelt, wende ich mich einer anderen Gruppe konversierender Trauergäste zu. Denn obwohl ich mich auf das heftigste bemühte, gelang es mir an jenem Spätnachmittag im Kreise dieser anspruchsvollen Gastgeber nicht, auch nur eine einzige Einladung zu erstehen.

Peter Blie