Ein Kraftmeier macht's mit Gefühl

Was nutzt es, daß Belgien mehr vom Spiel hat und das Publikum mehrheitlich die Fritten mit Mayonnaise und nicht mit Essig ißt - die erstaunlich flexiblen Engländer sind weiter  ■  Aus Bologna Herr Thömmes

Die italienische Presse kann einen wirklich schocken. „Man erwartet ein sehr taktisches und statisches Spiel,“ war von Giorgio Comaschi in der 'repubblica‘ zu lesen, und sein Kollege Galavotti zitiert in der 'Gazzetta dello Sport‘ den englischen Trainer Bobby Robson mit der Drohung „Alles wird wie immer, ihr habt das ja schon gesehen“. Eben, und wer sich an die Partien gegen Irland und Ägypten zurückerinnert, wird verstehen, daß eine Bahnfahrt von Rom durch die Toscana bei solchen Aussichten beträchtlich an Reiz verlieren kann.

Und dann kam alles anders. Weiß der Henker, wer da wen mit welchen Argumenten überzeugt hat, aber plötzlich zeigten sich die britischen Hoch-Weit-Kicker geradezu verliebt ins Kurzpaßspiel: Keine hohen Flanken, keine Kopfballstafetten, bei denen die Pille minutenlang nicht mehr die Erde berührt, und trotzdem „a lot of fighting spirit“ (Coach Bobby Robson).

Selbst ein Dogma wurde angetastet, das ansonsten auf der Insel steht wie die Uhrzeit der Teepause: Spiele nie mit Libero! Mark Wright sah sich zum zweiten Mal in der Geschichte der Nationalmannschaft mit einem Job betraut, den auch bei den Klubs lediglich Queens Park Rangers im Repertoire hat, weshalb seine recht kräftigen Kollegen in der Abwehr im Gefühl völliger Sicherheit jeden wilden Befreiungsschlag vermeiden konnten - wie schon gegen Holland.

Pech nur, daß in Belgien diese Spielart schon länger gepflegt wird. Für Bruno Versavel mußte sich Peter Shilton bereits nach zwei Minuten lang machen, und eine Linke von Altmeister Jan Ceulemans prallte heftig gegen den Pfosten (14.). Doch die Lernbereitschaft zeigte auch auf der anderen Seite erfolgversprechende Momente: zweimal John Barnes (35./39.), dessen Abseitstor wohl doch regulär war.

Eine ganze Stunde lang währte das ansehnliche Hin und Her, nur muß dann irgendjemand aufs Spielfeld gerufen haben, daß in dieser Runde ausscheidet, wer verliert. Angst machte sich breit, nur Vincenzo Scifo riskierte gelegentlich einen Schuß aus größerer Entfernung, weil er mit dieser Methode schon zuvor einmal den Pfosten getroffen hatte (51.).

Wenn auch nicht mehr viel lief, es lief mehr bei den Belgiern. Bobby Robson konnte das aufgeräumt zugeben („Die zweite Halbzeit gehörte den anderen“) und Kollege Guy Thys grämte sich: „Dreiviertel des Spiels waren wir am Drücker“.

Wie schon bei Brasilien und Rumänien schaffte nicht die überlegene Mannschaft die nächste Runde. Und das nur, weil sich für einen Augenblick die belgische Abwehr irrte wie der Inspirator Scifo. „Was die Phantasie angeht“, hatte der geglaubt, „sind die Engländer genau wie früher.“ Fast schon Ironie ist es da, daß ausgerechnet Paul Gascoigne alle aufs Kreuz legte.

Der junge Mann mit seinen gerade 23 Jahren verkörpert den Inbegriff britischen Fußballs, und ihn näher zu beschreiben ist kaum möglich, ohne eine Beleidigungsklage zu riskieren. Auf Äußerungen des Mißfallens antwortet er dem Publikum durch hübsch obszöne Gesten, und nach dem Schlußpfiff war er der einzige, der stracks zum Fanblock („Terror England“) rannte und kräftig die Emotionen schürte.

Dieser Stiernacken also nimmt eine Minute vor dem Ende der Verlängerung, als Guy Thys „schon die Elfmeterschützen im Kopf“ hat, Anlauf zu einem Freistoß aus gut 30 Metern, als wolle er mit einem Kick den Ärmelkanal überwinden.

Große Täuschung. Heraus kam ein seltsam weicher Heber in den Strafraum, und David Platt, mit dem Rücken zum Tor, legt ihn wunderbar volley an Preud- Homme vorbei ins Netz. Jetzt sind für die nächste Stunde nur noch die vielleicht 3.000 Engländer am singen. Es waren ja sehr viel mehr Fußballfans im Stadion, die zu den Fritten lieber Mayonnaise essen und nicht Essig, und die Polizei hielt den britischen Block fest, bis alle anderen Zuschauer sich entfernen konnten.

Es gab keinen Zoff in Bologna; vor dem Spiel war alles ruhig in der City, und nur in der Pause zur Verlängerung kam es zu kleinen Rangeleien. Jetzt müssen sich die Sicherheitsstrategen auch in Neapel auf die ungeliebten Gäste einrichten. Die englische Mannschaft will einfach nicht ausscheiden.

England: Shilton - Wright - Parker, Walker, Butcher, Pearce

-Waddle, McMahon (72. Platt), Gascoigne, Barnes, (75. Bull) - Lineker.

Belgien: Preud'homme - Gerets, Clijsters, Demol, Grun - de Wolf, van der Elst, Scifo, Versavel (107. Vervoort) Degryse (65. Claesen), Ceulemans.

Zuschauer: 34.520

Tore: 1:0 Platt (120.)