Der Letzte auf dem Weg nach Europa

Unter Druck geraten durch die Reformen und Revolutionen in Osteuropa und Proteste im eigenen Land, sucht jetzt auch Albanien Anschluß an Europa / Parteichef Alia sucht nun die Öffnung  ■  Von Peter Martos

1990 wird als Jahr der schleichenden Revolution in Albaniens Annalen eingehen. Für Ramiz Alia, den seit 1985 mit beinahe unbeschränkter Macht herrschenden Nachfolger „des großen Enver Hoxha“, bedeutet dieses Jahr den gravierendsten Meinungswandel seiner politischen Laufbahn. Noch am 13.Dezember 1989 hatte der albanische Partei- und Staatschef kategorisch ausgeschlossen, daß der Umbruch in Osteuropa „irgendwelche Auswirkungen“ auf sein Land haben werde. Albanien sei „nie der Schwanz eines anderen Staates“ gewesen, meinte Alia. Und in Anspielung auf den Bruch mit Jugoslawien (1948), mit der Sowjetunion (1960) sowie mit China (1978) wörtlich: „Wir haben alle Länder, die uns ihre Ansichten aufzwingen wollten, bekämpft und uns von ihnen getrennt, obwohl sie stark, mächtig und reich waren.“

Die Wiederannäherung scheint sich Alia in der Reihenfolge des Reichtums vorzustellen: Mit den USA gibt es bereits Kontakte, die auf die Wiederaufnahme der bereits 1939 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen abzielen. Derartigen Meinungswandel ist die Welt von Ramiz Alia nicht gewohnt. Stets hatte der am 18.Oktober 1925 im nordalbanischen Shkoder (Skutari) als Sohn einer aus dem heute jugoslawischen Kosovo stammenden moslemischen Familie Geborene eine geradezu sture Linie verfolgt. Noch als Schüler 1942 der kommunistischen Jugendliga beigetreten, wurde er wenig später in der Nationalen Befreiungsbewegung aktiv und stieß schon 1944 zu den von Enver Hoxha geführten Einheiten. Für seinen Kriegseinsatz erhielt er eine hohe jugoslawische Auszeichnung - der letzte Kontakt zu jenem Land, das bis zum heutigen Tag Alias Intimfeind zu sein scheint. Sein Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg vollzieht sich ungebrochen: Generalsekretär, später Präsident der „Union der Werktätigen Jugend Albaniens„; 1949 Mitglied des Zentralkomitees, 1956 Kandidat und 1961 Vollmitglied des Politbüros, ab 1960 auch ZK-Sekretär; 1955 bis 1958 Erziehungsminister; seit Anfang der sechziger Jahre gilt er als Chefideologe Hoxhas.

Als er im November 1982 Staatsoberhaupt wird, ist er - nach dem mysteriösen Tod des langjährigen Ministerpräsidenten Mehmet Shehu - ohnedies konkurrenzlos, so daß es niemanden überrascht, daß er nach Hoxhas Tod im April 1985 sofort die Parteiführung übernimmt. Obwohl Alia 1972 in einer sensationellen Rede die Öffnung der albanischen Jugend gefordert hat, ist er stets ein treuer Schüler geblieben. So gibt er zum 80.Geburtstag Hodxhas im Oktober 1988 auch das offizielle Würdigungsbuch heraus: Unser Enver enthält nichts als verbale Verbeugungen vor dem „großen Führer und herausragenden Menschen, den die albanische Nation hervorgebracht hat“. Das Werk sei, so das Parteiorgan 'Zeri i Popullit‘, eine „weitere Bestätigung der allseitigen Kontinuität der Partei und des Volkes auf dem Weg des Sozialismus in Übereinstimmung mit den leuchtenden Lehren Envers“. Ganz so leuchtend können die wohl nicht sein: Alia nennt Albanien noch im Januar dieses Jahres eine „uneinnehmbare Festung“ und bekräftigt etwas später den absoluten Hegemonieanspruch der KP, spricht aber unter dem Eindruck heftig dementierter Unruhen erstmals von der Notwendigkeit größerer innerparteilicher Demokratie. Noch attackiert er „die schweren Verfehlungen der revisionistischen Führungen“ in den Warschauer-Pakt-Staaten, deutet aber Entbürokratisierung und vorsichtige Wirtschaftsreformen an.

Zum 1.Mai ist noch ein letztes Mal der „alte“ Ramiz Alia zu hören: „Die Feinde des Sozialismus bemühen sich, unsere Errungenschaften und unsere Wirksamkeit zu leugnen, indem sie von den Erfahrungen der osteuropäischen Länder ausgehen. Dort wurde der Kommunismus mit einer korrupten Gesellschaftsordnung gleichgesetzt, die nichts mit dem Sozialismus gemein hat. Für Albanien ist der Sozialismus die einzige Alternative und die einzige Garantie für seine Freiheit und Unabhängigkeit.“

Schon zwei Wochen später sieht Alia sein Land „unwiderruflich“ auf Reformkurs. Dazwischen liegen zum zweiten Mal in diesem Jahr Demonstrationen in Tirana-Durres und auch in Alias Heimatstadt Shkodra. Diese sind indirekte Folge der Öffnung Albaniens für organisierte Tourismusreisen. Durch die Touristen gelangen die Nachrichten über die Umwälzungen in Osteuropa erst nach Albanien, bis dahin von der Außenwelt fast völlig abgeschnitten. Beim Besuch von UN-Generalsekretär Javier Perez de Cuellar kündigt er eine weitere außenpolitische Öffnung, die schrittweise Teilnahme am Prozeß der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) sowie eine Revision des stalinistischen Justizsystems an.

Die Erlaubnis von Auslandsreisen, die Abschaffung von Strafgesetzen für „religiöse Propaganda“ und „Republikflucht“ sowie die Übertragung einiger Investitions -, Verkaufs- und Preisentscheidungen auf die (weiterhin staatlichen) Unternehmen markieren den Meinungswandel. Sogar das Verfassungsverbot von Kreditaufnahmen im Ausland wird gestrichen. „Genosse Ramiz Alia sprach beim Plenum über das brillante Leben und die Taten des Genossen Enver Hoxha als großer Revolutionär und Marxist-Leninist, der die Lehren von Marx, Engels, Lenin und Stalin loyal verteidigte und entwickelte“, hieß es bei Radio Tirana im April 1985. Dieses Jahr hat „Genosse Ramiz Alia“ wenig über „Genossen Enver Hoxha“ gesprochen...

Der Autor ist Osteuropa-Redakteur der Wiener Tageszeitung 'Die Presse‘