Wie, bitte sehr, definiert man das (Wahl-)„Volk“?

Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht: Beim Ausländerwahlrecht stehen Hamburg und Kiel gegen CDU - und gegen Karlsruhe?  ■  Von Ferdos Forudastan

Bonn (taz) - Soll man ein paar Schaukeln von dem Kinderspielplatz entfernen? Will man einen Taxistand schaffen? Ist es notwendig, die Umgehungsstraße zu bauen? Muß man die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, um bei solchen Fragen mitreden zu können? Nein, fand Ingo von Münch (FDP), Verfassungsrechtler, Hamburgs Zweiter Bürgermeister und Vertreter seiner Stadt am Dienstag vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Jene allerdings, die in dem Normenkontrollverfahren gegen das kommunale Ausländerwahlrecht von Hamburg und Schleswig-Holstein stritten, mochten sich auf solche Fragen überhaupt nicht einlassen. Offenkundig lag ihnen, der bayerischen Staatsregierung und der CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages nämlich ganz anderes am Herzen: Sie wollen das deutsche Volk von der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland verfassungsgerichtlich abgegrenzt sehen.

Fast zu geringfügig war der Gegenstand des Verfahrens für dieses Anliegen. Untersucht werden sollte nämlich nicht, ob AusländerInnen in der BRD grundsätzlich wählen dürfen oder nicht - sprich: ob sie zum (Wahl-)Volk gehören. Anlaß des Streits waren zwei Gesetzesnovellen, nach denen Nichtdeutsche nur sehr beschränkt wählen dürfen: Schleswig -Holstein hatte lediglich insgesamt 7.000 Dänen, Schweden, Iren, Norwegern, Niederländern, Schweden und Schweizern ein Wahlrecht eingeräumt. Nach dem Hamburger Gesetz dürfen alle 90.000 AusländerInnen, die seit mindestens acht Jahren hierzulande leben, wählen - allerdings nur die Bezirksversammlungen mit ihren wenigen Kompetenzen.

Bayern und der Bonner CDU/CSU-Fraktion reichten jedoch schon diese zaghaften Ansätze, AusländerInnen mitentscheiden zu lassen, um schwerstes völkisches Geschütz aufzufahren. Über „eine Schicksalsfrage der Republik“ habe das Gericht zu entschieden, rief etwa Wolfgang Bötsch, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion. Und: Hamburg und Schleswig-Holstein wollten „das Wahlvolk umdefinieren“, das „demokratische Prinzip vom Fundament her beschädigen“, die bundesdeutsche Demokratie „fremdbestimmen“, Deutschlands „nationale Einheit“ „von innen her auflösen.“ Bötsch wie Bayerns Innenminster Stoiber und ihre versammelten Rechtsgutachter hatten die herrschende Staatsrechtslehre im Rücken und nutzten dies weidlich. Die in der juristischen Literatur gängige Argumentationskette reichte ihnen, sich durch das ganztätige Verfahren zu hangeln: „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“ legt der Artikel20 des Grundgesetzes fest. Volk sei deutsches Volk. Deutsches Volk sei die Summe aller Staatsangehörigen. Staatsangehörig sei man qua nationaler Zugehörigkeit und dem Willen zur nationalen Zugehörigkeit. Warum das Volk sich nicht aus jenen zusammensetzen kann, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben - auf diese Frage der Vertreter von Hamburg und Schleswig-Holstein mochten sich die Konservativen nicht einlassen: Das Volk als „personenrechtlicher Verband“ und „unentrinnbare Schicksalsgemeinschaft auf Lebenszeit“ müsse gesichert werden. Dies hielt etwa Josef Isensee, Rechtsprofessor und Bevollmächtigter der CDU/CSU-Fraktion den Plädoyers der für Hamburg und Schleswig-Holstein streitenden Rechtswissenschaftler Schmidt-Jortzig und Bryde entgegen. Sie hatten dafür gestritten, des Begriff „Volk“ zeitgemäß auszulegen: Auf dem Hintergrund der Bundesrepublik als Einwanderungsland. Volk, so Bryde, sei nicht mehr ethnisch zu bestimmen. „Volk“ sei, wer einer Gebietskörperschaft „unterworfen“ sei, von ihr „beherrscht“ und regiert werde. Diese Personengruppe näher einzugrenzen, ist seiner Ansicht nach Aufgabe des Gesetzgebers.

„Multikulturelle Gesellschaft“ und „offene Gemeinschaft“, „antinationalistisch“ und „europäischen Geistes“, „Zeit, ein politisches Zeichen zu geben“ und „Anlaß, den Ängsten vor der deutschen Vereinigung etwas entgegenzusetzen“ - auch die Verfechter des kommunalen Ausländerwahlrechts wurden am Dienstag in Karlsruhe immer wieder sehr viel grundsätzlicher, als es ihre juristische Rechtfertigung der Gesetzesnovellen hoffen gemacht hatte. Allein das Wahlrecht der AusländerInnen zu den Gemeindeparlamenten waren sie angetreten zu verteidigen - und versuchten auch während des Verfahrens immer wieder, sich darauf zu beschränken. Nicht um das „Staatsvolk“, so etwa Brun-Otto Bryde, ginge es in den Kommunen. Kommunen seien etwas anderes als der Staat, glichen etwa eher Universitäten. Deshalb auch müsse „Volk“ hier nicht näher definiert werden. Er und seine Mitstreiter wollen das Wahlrecht denen einräumen, die „Betroffene in örtlichen eigenen Angelegenheiten“ seien. Daß dies die Verfassungsrichter des zweiten Senats geneigter stimmen wird, ist nicht sehr wahrscheinlich. Viele ihrer Fragen an die Vertreter des Ausländerwahlrechts zeigten, wie fern ihnen die Vorstellung ist, auch Nichtdeutsche zum „Volk“ zu zählen. Daß alleine aus dem Grundgesetz noch nicht zu ersehen ist, wer zum „Volk“ gehört, diese Auffassung schien man auf der Richterbank nicht zu teilen. „Soll sich etwa der Gesetzgeber sein Wahlvolk zurechtschneiden?“ So reagierte etwa Ernst-Wolfgang Böckenförde auf den Appell Brydes, „Volk“ müsse immer ausgelegt werden, sei nicht naturgegeben und zu allen Zeiten das gleiche.