MORPHOGENETISCHE SPONTANZEUGUNG

■ Ein Vortragsabend der „Zersammlung 90“ im Literarischen Colloquium

Unbefugten ist der Zutritt, nein, nicht verboten, aber schwer verrammelt. Zersammlung 90, die zum zweitenmal stattfindende Veranstaltungsreihe über DDR-Kunst, geht heute abend im Literarischen Colloquium mit einem Abschlußfest zu Ende. Eine Herausgeberrunde, viermal Dichterlesungen, Konzerte und Performances; und ein Vortragsabend über die „unabhängige DDR-Literatur der 80er“. Nur von letzterem soll im folgenden die Rede sein. Zwei junge Literaturwissenschaftler, ein ebenso junger Kunsthistoriker und ein Lektor und Kritiker der älteren Generation waren aufs Podium geladen und stellten ihre jeweilige kleine Geschichtsschreibung vor. Und als Westkopfbesitzerin hatte man es, siehe oben, schwer.

Durch den Mauer- resp. Systemumfall, man mag es ja kaum nochmals sagen, hat sich, notgedrungen gewissermaßen, die Situation ergeben, daß Bilanz gezogen werden muß. Und eine ganze Disziplin, die sich vor kurzem noch eher als Unbotmäßigkeitsverwaltung begriff, muß nun, obwohl sie kaum das Historikeralter erreicht hat, umsatteln auf Geschichtsschreibung. Und die ist ja immer gleichzeitig auch Legitimierungssuche fürs Weitermachen. Nicht mehr Betonköpfe sind zur Zeit am Werk, sondern quasi Fundamentbetongießer.

Also: Ist sie nun vorbei und erledigt, oder fängt sie gerade erst an, die DDR-Literatur? Auch unter besseren Bedingungen, als das Podium sie schuf, könnte man auf diese Frage gewiß nur gut eriwanisch antworten. Darum baute man erst mal eine haltbare Plattform: „Die 80er Jahre sind ja nun vorbei. Das ist unbezweifelbar.“ In der Tat, auch wenn sich ansonsten - und das ist das Verwirrende an den noch zwei Kulturen - die Zeitrechnungen gründlich unterscheiden.

Deshalb hält man sich in ordentlicher Buchhaltermanier ans Faktische und wirft sich aufs Listenmachen: Der Kunsthistoriker Christoph Tannert, Profikenner der nichtstaatstragenden Avantgardeszene der DDR, lieferte einen diagestützten Abriß des intermedialen Kunstbereichs der allerjüngsten Zeit, der in unserer Schwesterkultur unter dem Namen „Aktionskunst“ läuft. Um den Vorwurf, es handele sich ganz offensichtlich um dem Westen hinterherhinkende Imitationskunst, von vorneherein auszuhebeln, stellte er, quasi apodiktisch-lapidar, fest: Die Künstler haben ihr Werk ohne jede Anlehnung an theoretische wie praktische Väter des Westens produziert. Folglich kann es sich, betrachtet man die Produkte, nur um so etwas wie morphogenetische Spontanzeugung handeln. Ich denke dabei an jenen Schweizer Hinter-den-Bergen-Ingenieur, der ahnungslos und originell einfach die Panzerketten ein bißchen später noch einmal erfand. Ähnlich zeitverschoben vertraut sieht manche östliche Avantgardeproduktion für den rasenden Westblick aus.

Peter Böthig, der nächste Sammler, ist seit dem letzten Jahr nicht mehr DDR-Staatsbürger, hat ein amerikanisches Literaturstudium hinter sich und las aus einem Aufsatz, den er, unter den Bedingungen örtlicher und psychischer Ferne vom Gegenstand, in Amerika über Die verlassene Sprache . Die Literatur der 80er Jahre geschrieben hat.

Und an ihm konnte man - abgesehen von seiner These, es habe eine Bewegung von der „Nichtschriftlichkeit zur Schriftlichkeit der Literatur“ stattgefunden, lernen, was aus einem armen Studenten wird, wenn er in den Theorienstrudel gerät. Die Rezensentin gesteht, daß sie sich aufs unaushaltbarste selber gespiegelt sah und sich geschworen hat, enthaltsamer mit geklauten Geschossen schwersten Kalibers umzugehen. Böthig drehte den Befund „junge DDR-Literatur“ einmal durch die Baudrillard-/ Blanchot-/ Nietzsche-/ Benjamin- etc. -Wurstmaschine, und schon sah alles sehr schön und bedeutsam aus. Allerdings war schwerlich auszumachen, ob es sich bei der in Rede stehenden Literaturproduktion, derart unter den „Aufstand der Zeichen“ im allgemeinsten subsumiert, um sinnerodisierendes Schreiben in der DDR, Afghanistan oder Kuala Lumpur handelte.

Es hatten sich nun aber - ehrenwerterweise - in seinen schwindelerregenden Etikettenmix tatsächlich noch einige wenige Pfuiwörter eingeschlichen wie beispielsweise der Begriff Überbau („der Überbau ist entmachtet, und der Untergrund ist tot“). Und das war der Moment, wo der Moderator Hajo Steinert zeigen konnte, was wahrhaft moderieren heißt. Im übrigen schien es, als verwechsele er das Podium mit einem Eisenbahncoupe, wo man, aus der Not eine Tugend machend, mit den Zwangsnachbarn so ein bißchen daherplaudert: Ach, wie interessant, Sie sind ein Geschäftsführer; sagen Sie mal, wie war denn das damals?... Nun aber besagter „Überbau“: „Marxismus und Strukturalismus als Symbiose?“ fragte er den Referenten mit Denkrunzeln, „das ist sicherlich gewagt!“ Der, nicht begriffsfaul, wollte das Ganze dann lieber „Poststrukturalismus“ genannt wissen. Damit war der Anschluß geschafft und die Diskussion auch schon wieder erschöpft.

Nummer drei war dran und unterhielt das Publikum regelrecht angenehm mit seiner Vorstellung des „Unikat Syndroms“. Gegenstand des Vortrags von Michael Thulin war eine Kunstgattung, die nun in der Tat ausgesprochen DDR -spezifisch ist und auch von habgierigsten Westvereinnahmern nicht ohne weiteres zur Kulturdoublette erklärt werden kann. In den Jahren der staatsverordneten Kunst haben staatsunlustige Künstler ein Medium erfunden, das sich am ehesten als zensurresistent erwies: die Handpreß -Zeitschriften, die sich nicht über den gängigen Warenverkehr erwerben ließen. Ursprünglich waren das reine Originalgraphikbroschüren, die dem Kultur-TÜV nicht vorgelegt werden mußten, da sie in niedriger Auflage hergestellt und wortfrei, nicht in die Kategorie der Gesinnungsgefährder fielen.

Natürlich schlichen sich dann doch die Wörter und der Sinn ein. Es entstanden jene sehr schönen, handgefertigten Hefte mit Graphik und Lyrik. Jedes Exemplar mußte einzeln bedruckt, beklebt, getippt, geschrieben, geheftet werden Unikate mit einem Wort. Und die hatten und haben noch ein wenig vom Abglanz der Aura eines nichtreproduzierbaren Kunstoriginals. Etwas, was man nicht besitzen, nur an einem fixen Punkt in Ort und Zeit, hier und jetzt und nicht später, anschauen kann, zu dem man sich sofort, ohne Kritiker- und Mediendeutung, verhalten muß; so beschrieb Thulin jene eigenartige Originalverwirrung, eben das Unikat -Syndrom.

Obwohl sich zu dem Zeitpunkt des Abends schon ein gehöriger Wust von Befunden, Vermutungen, Klein- und Großtheorien auf die Ohren der Zuhörer gelegt hatte, war dem Moderator immer noch nicht nach irgendeiner Art von versuchsweiser Ordnung oder Weiterführung der Gedanken zu tun. Und überhaupt war es schon so spät. Gerhard Wolf, der gejagte letzte Redner, nahm Steinert dann diese Aufgabe ab, entschied sich kurzerhand gegen den geplanten Vortrag, las statt dessen aus seinem Vorwort zum 'Text+Kritik'-Heft über neueste DDR-Literatur und brachte den Unterschied der Ost- und der Westkunst der Avantgarde auf einen plausiblen Begriff. Die DDR-Literatur hatte den „Charakter der Klandestinität“ im Gegensatz zu ihrer totalen Öffentlichkeit im Westen.

Ob diese Heimlichkeit tatsächlich sowohl notwendige wie auch hinreichende Bedingungen zu ihrer Möglichkeit war, wird man sehen, obwohl gehässige Krankheitsbeschauer natürlich längst wissen, daß mit der Mauer auch der Widerstand alias Kunst hin ist. Nicht einmal darüber aber ließ sich dann noch schön global-pauschal streiten. Steinert bedankte sich für diesen „sinnlichen“ Abend (es gab nämlich noch das Video über eine Performance der „Autoperforationsartisten“ mit Blut, Taubenkokeln, Schamhaarschneiden und Wortrezitation zu sehen) und beschloß den Abpfiff.

Es war schon absurd! Da sitzt der Osten und hätte uns eigentlich die Entdeckung der Langsamkeit anzubieten: vorsichtig reden, geduldig hören und schauen, auf Showbiz -Zauber und rhetorischen Glitter verzichten, innehalten vielleicht oder bremsen. Statt dessen ist er zur verunstaltenden Hetze verdammt bzw. verdonnert sich selber dazu. Schnell noch „aufarbeiten“, nicht den Anschluß verpassen! Und da sitzen die Schnellgeschichtsschreiber, Reisende in Sachen Artenschutz, und werden sich selber, buchstäblich, zum immer selben Zitat. Denn die Minuten sind kostbar, müssen genutzt werden, solange der so verdammt schnell Überdruß zeigende Westen ihrer fast schon verdorbenen Ware „DDR“ noch Auftritte gewährt.

„Nick Cave and the bad seeds“ stand dick auf der breiten T -Shirt-Brust des so hervorragenden Moderators. Die böse Saat ist, so scheint es, schon aufgegangen. Von Künstlerinnen war übrigens so gut wie nicht die Rede.

Christel Dormagen

Sonnabend um 19 Uhr: Literaturperformances: Michael Brendel, Else Gabriel, Johannes Jansen, Peter Wawerzinek; Musik: Stan Red Fox; Abschlußfest. Literarischen Colloquium, Am Sandwerder 5, 1-39