Schlangestehen - und kein Ende

■ Arbeitnehmer in Ost-Berlin bangen um ihre Juni-Löhne / Können sie noch innerhalb des Umtauschkontingents 1:1 verrechnet werden, oder wird der Lohn halbiert? / Der Ausweg: Barauszahlung und ab zur Bank

Ost-Berlin. Die Schlangen vor den Banken werden stündlich länger, die ersten stellen sich schon morgens gegen drei an, um nicht bei der Öffnung um neun die letzten sein zu müssen. Die Umtauschanträge müssen abgegeben werden, damit ab 1.Juli das angemeldete Westgeld vom Konto abgeholt werden kann. Schlangestehen war man in der alten DDR gewohnt, das Stehvermögen erleichtert das Durchhalten. Man richtet sich ein, bringt Zeitungen mit, selten nur ein Klappstühlchen. Es werden Wartegruppen eingerichtet, ein Mensch steht für drei Personen an, derweil zwei ihren Geschäften nachgehen. Der Platzhalter wird mit Obst und Saft versorgt.

Die Schlange am Alex ist die längste. Hundert Meter kringelt sie sich um die Weltuhr, eine weitere 150 Meter an der Internationalen Buchhandlung vorbei. Der Laden hat geschlossen, Inventur ist angesagt, man kommt sich also nicht in die Quere mit den sonst dort auf Einkaufskörbchen wartenden Literaturfreunden. Die Stimmung ist aber mies in diesen letzten Tagen vor dem großen Countdown. Ein Ei wurde den meisten Arbeitnehmern noch kurz vor dem Währungstausch ins Nest gelegt. Was passiert mit den Juni-Gehältern, die normalerweise Anfang Juli auf die Konten überwiesen werden? Werden sie noch in Ostmark oder schon in Westmark ausbezahlt? Wochenlang war dieses Procedere unklar, und erst vergangene Woche wurden Fakten geschaffen. Das Juni-Gehalt muß von den Arbeitgebern noch im Juni überwiesen werden. So weit, so gut, aber für viele Arbeitnehmer bedeutet diese Regelung eine Halbierung des Monatslohns. Alle diejenigen, die mehr als 4.000 Mark auf dem Sparkonto haben, werden um 50 Prozent ihres Gehaltes betrogen.

Die gute alte Lohntüte

erlebt ein kurzes Comeback

Der im letzten Moment eingegangene Betrag wird, wenn das Westmarklimit mit der Überweisung überzogen wird, in einem Verhältnis von zwei zu eins abgewertet.

Viele Betriebe haben den Unmut der Arbeitnehmer durch eine ungewöhnliche Gehaltsauszahlungsmethode abgefedert. Der sonst auf das Konto fließende Betrag wird bar ausgezahlt. Diese Bargeldbesitzer vergrößern jetzt die Schlangen am Alex und anderswo, weil das auf die Hand gezahlte Gehalt jetzt auf Konten von Familienmitglieder oder armen Verwandten umverteilt wird. Deswegen ist das Warteklima vor den Banken schlecht, obwohl dieses „Schnäppchen“ das volle Gehalt noch sichern hilft. Aber auch die Lohnempfänger fürchten um ihren vollen Lohn, und nur durch private Arrangements mit ihren Arbeitgebern kann ein eventueller Schaden begrenzt werden.

Die 10-Prozent-Lösung

Die Lohnempfänger erhalten in der Regel Mitte des Monats eine Abschlagszahlung, bekamen also um den 15.Juni herum die Hälfte des Juni-Lohnes auf ihre Konten überwiesen, die dort verblieb beziehungsweise noch rechtzeitig „umverteilt“ wurde.

In einem Ministeriumsbeschluß wurde nun vergangene Woche festgelegt, daß die Betriebe bis Ende des Monats 90 Prozent des gesamten Juni-Lohnes überweisen müssen, die restlichen 10 Prozent erst im Juli. Das erzeugt Verbitterung, denn dieser Lohnrest wird in einem Verhältnis von zwei zu eins verrechnet und ausgezahlt. Schaffen die Lohnempfänger es also nicht, die Betriebsbürokratie zu überlisten und den vollen Lohn noch im Juni zu ergattern, dann sind sie, sofern sie mehr als 4.000 Mark Erspartes am 1.Juli auf der Kante hatten, geklemmt. Ihre Arbeit wurde, zumindest zum Teil, in einem Verhältnis von zwei zu eins abgewertet. Die Ministerien sehen das natürlich anders, sie argumentieren mit strenger Logik, daß mit dieser Regelung sichergestellt ist, daß alle Lohnabhängigen sechs Monate in diesem Jahr den vollen Lohn in Westmark erhalten. Viele Werktätige akzeptieren dies aber ungern. Und deswegen ist die Stimmung in den Warteschlangen noch schlechter: Denn die Wartesolidarität ist zum Teufel, wenn der Nachbar noch ein „Schnäppchen“ bringt und man selber nicht.

Anita Kugler