Verdoppelungen

■ Im April 1864 erschien Victor Hugos umfangreiches Shakespeare-Buch, aus dem wir hier drei kurze Seiten bringen.

Alle Stücke Shakespeares - außer zweien, Macbeth und Romeo und Julia -, 34 von 36 Stücken bieten dem Betrachter eine Besonderheit, die bis heute anscheinend den wichtigsten Deutern und Kritikern, wie den Gebrüdern Schlegel, entgangen ist und die selbst Villemain in seinen bemerkenswerten Arbeiten mit keinem Wort erwähnt, die man aber unmöglich nicht erklären kann. Es ist eine begleitende Handlung, die das Drama durchzieht und es im Kleinen widerspiegelt. Neben dem Sturm im Atlantik der Sturm im Wasserglas. So ruft Hamlet einen kleinen Hamlet hervor. Er tötet Polonius, Vater des Laertes, und Laertes befindet sich ihm gegenüber in der gleichen Situation, in der er Claudius gegenüber steht. Zwei Väter sind zu rächen; es könnte zwei Geister geben. Genauso verhält es sich im König Lear: Lears Verzweiflung über seine Töchter Goneril und Regane und die Tröstung durch seine Tochter Cordelia wiederholen sich unter seinen Augen in Glocester, verraten von seinem Sohn Edmond und geliebt von seinem Sohn Edgar. Dieses verzweigte Bild, ein Bild, das sein eigenes Echo hervorruft, ein kleineres Drama, welches das Hauptdrama nachbildet und stützt, eine Handlung, die ausstrahlt, die eine gleiche Nebenhandlung nach sich zieht: die geteilte Einheit, das ist sicherlich eine Besonderheit. Diese verdoppelten Handlungen wurden von den wenigen Deutern, die auf sie aufmerksam machten, stark mißbilligt. Wir schließen uns dieser Mißbilligung in keiner Weise an. Billigen wir sie deshalb und halten wir diese doppelte Handlung für geglückt? Keineswegs. Wir stellen sie fest und das ist alles. Um von jeder Imitation abzuraten, haben wir so laut wir konnten seit 1827 gesagt: das Shakespearesche Drama ist Shakespeare eigen, dieses Drama entspricht diesem Dichter, er trägt es in sich, es ist er. Daher die absolut persönliche Originalität, daher die Überempfindlichkeiten, die da sind, ohne ein Gesetz zu begründen.

Diese begleitenden Handlungen sind ganz und gar Shakespeares Art. Weder Aischylos noch Moliere hätten sie für gut befunden; und wir schätzen Aischylos und Moliere.

Die begleitenden Handlungen sind im übrigen das Zeichen des 16.Jahrhunderts. Jede Epoche hat ihr geheimnisvolles Kennzeichen. Die Jahrhunderte haben eine Signatur, die sie unter die Meisterwerke setzen und die man entziffern und erkennen muß. Das 16.Jahrhundert signiert nicht wie das 18.Jahrhundert. Die Renaissance war eine subtile Zeit, eine Zeit der Anschauung. Der Geist des 16.Jahrhunderts war der der Spiegelung; jedes Bild der Renaissance hat zwei Dimensionen. Denken sie an die Emporen in den Kirchen. Mit einer auserlesenen und eigenwilligen Kunst läßt die Renaissance hier immer das Alte Testament im Neuen nachwirken. Die begleitende Handlung findet sich überall. Das Symbol erklärt die Figur in der Wiederholung ihrer Geste. Wenn in einem Basrelief Jehovah seinen Sohn opfert, befindet sich an seiner Seite, im benachbarten Basrelief, Abraham, der seinen Sohn opfert. Jonas verbleibt drei Tage im Wal und Jesus drei Tage im Heiligen Grab, und das Maul des Ungeheuers, das Jonas verschlingt, entspricht dem Höllenschlund, der Jesus verschlingt.

Der Bildhauer der so unglücklich zerstörten Empore von Fecamp geht so weit und erstellt als Replik zum hl. Joseph wen? Amphitryon.

Diese sonderbaren Nachwirkungen stehen in der Tradition dieser großen, tiefen und ausgefeilten Kunst des 16.Jahrhunderts. Nichts in dieser Art ist merkwürdiger als das, was man aus dem hl. Christophorus gemacht hat. Der hl. Christophorus, der im Jahr 250 von Decius gemarterte gute Riese, als Heiliger von den Bollandisten aufgenommen und endgültig von Baillet bestätigt, kommt in der Malerei und Bildhauerei des Mittelalters und des 16.Jahrhunderts immer in dreifacher Weise vor, als Triptychon. Als erster Christusträger, eine erste Christophore, erscheint Christophorus mit dem Jesuskind auf seinen Schultern. Dann folgt die schwangere Jungfrau als Christophore, weil sie Christus trägt; endlich ist das Kreuz eine Christophore, da es auch Christus trägt. Die Kreuzigung weist auf die Mutter zurück. Dieses dreigeteilte Bild wurde durch Rubens unsterblich in der Kathedrale von Anvers. Das zweigeteilte Bild, das dreigeteilte Bild, das war der Charakter des 16.Jahrhunderts.

Shakespeare, dem Geist seiner Zeit treu, mußte dem seinen Vater rächenden Hamlet den seinen Vater rächenden Laertes beifügen. Gleichzeitig läßt er Laertes Hamlet verfolgen, so wie Hamlet Claudius verfolgt. Er mußte das töchterliche Mitleid Cordelias durch Edgars Mitleid erläutern und die Aufmerksamkeit auf zwei elende Väter lenken, von denen jeder unter dem Gewicht der undankbaren, entarteten Kinder die eine Form des Lichts verlor: Lear umnachtet, Glocester blind.

Übersetzung: Ulla Biesenkamp