Den DDR-Jugendlichen auf der Spur

■ Institut für zeitgeschichtliche Jugendforschung in Berlin gegründet / 6.400 Briefe als Zeugnis der DDR-Identität

Berlin (taz) - Erst jetzt sei ihr klargeworden, daß sie nicht selbst lebte, sondern gelebt worden ist. Als Sechsjährige sei sie in die Pioniere eingetreten worden. Dann habe sie die FDJ übernommen. Ihre Eltern entschieden für sie, und die Lehrer sagten, was gut und böse sei. So beschreibt ein 17jähriges Mädchen aus der DDR heute ihre Vergangenheit. Und die Zukunft? Sie möchte kein einig Deutschland. Denn sie hat Angst, wieder Objekt der Politik zu werden.

Empfängerin dieser Zeilen (einer von 6.400 Briefen) ist die Historikerin Helga Gotschlich. Sie wird ab 1.Juli das Institut für zeitgenössische Jugendforschung leiten, das am Donnerstag in Ost-Berlin neu gegründet worden ist. Seit 1984 grassiert das Projekt der Jugendforschung in ihrem Kopf. Damals führte ihre erste Dienstreise nach Hamburg. Freunde zerrten sie in aller Frühe auf den Hamburger Fischmarkt. Und der sei Schuld, daß ihr Zweifel an ihrem alten sozialistischen Denken kamen. Dort habe sie soviel Lebenslust und Freude gespürt, die sie zuhause in der DDR vermißt hat. Dieses Erlebnis mündete direkt in die Fragestellung: Warum sind unsere Jugendlichen anders? Was wurde falsch gemacht? Seit dieser Zeit „fightet“ sie für ein Jugendforschungsprojekt. Im Dezember 89 sah sie endlich die Chance dafür gekommen.

Vor zwei Monaten beantragte Helga Gotschlich bei der Akademie der Wissenschaften die Gründung des Instituts. Ihre Argumente überzeugten, vor allem jenes, daß zeitgeschichtliche Jugendforschung Anliegen der DDR -Wissenschaft sein müsse. Auch Cordula Schubert, DDR -Ministerin für Jugend und Sport, ließ sich begeistern, machte finanzielle Mittel locker und kam selbst zur feierlichen Einweihung. „In einem geeinten Deutschland könnten die Jugendlichen“, so die Ministerin, „nicht ohne weiteres aus der DDR-Geschichte aussteigen“.

Die Aufgaben des Instituts umreißt Helga Gotschlich mit den Fragen: Wie erlebten und bewältigten Jugendliche die Konflikte, Krisen und gesellschaftlichen Umbruchprozesse während der Zäsuren 1933, 1945, 1989-1990? Wie verliefen die Sozialisation und Indoktrination, Entmündigung, Vereinnahmung, Gleichschaltung und Mobilisierung von Jugendlichen in autoritären Systemen? Helga Gotschlich hebt hervor, daß drei Viertel der in die BRD ausgewanderten DDR -Bürger Jugendliche seien. Was hat sie zu diesem Schritt bewegt?

Aber sie stellt auch Fragen an jene, die geblieben sind. Was wird aus ihnen? Wie sehen sie ihre Zukunft? Ihre Ängste und Zweifel brachten Jugendliche unlängst in einer Umfrage in 6.400 Briefen an das Institut aufs Papier. Gotschlich und ihre zehn Mitarbeiter haben im „Haus der Jugend“ Unter den Linden Unterschlupf gefunden. Der Standort garantiert zumindest Nähe zum „Forschungsgegenstand“. Vom freien Zugang zum Archiv der ehemaligen FDJ verspricht man sich aufschlußreiche Funde.

baep