Weizsäcker setzt sich in die Nesseln

■ Bundespräsident will Berlin schnell zur gesamtdeutschen Hauptstadt küren / Zahlreiche BRD- Unionspolitiker gehen auf Distanz / Weizsäcker in der Nikolaikirche zum Gesamtberliner Ehrenbürger ernannt

Berlin (dpa/ap/taz) - Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat sich für Berlin als Hauptstadt und Regierungssitz eines vereinigten Deutschlands ausgesprochen. „Hier ist der Platz für die politisch verantwortliche Führung Deutschlands“, sagte er gestern in der Ostberliner Nikolaikirche, wo er zum Gesamtberliner Ehrenbürger ernannt wurde. Gleichzeitig mahnte der Bundespräsident eine schnelle Entscheidung in der Hauptstadtfrage an. Es wäre unverantwortlich, sie auf die lange Bank zu schieben. Führende Unionspolitiker in Bonn und diversen Landeshauptstädten sind sofort auf Distanz zu dieser Forderung gegangen.

Es möge wichtige äußere Gründe geben, eine Entscheidung für Berlin als Hauptstadt nicht sofort umzusetzen, sondern erst nach einiger Zeit, in ausgewogener Verteilung und schrittweise. „Aber das darf unsere Volksvertretung nicht daran hindern, die Entscheidung so bald wie möglich zu treffen.“

Menschlich wichtig seien harte persönliche Lebensentscheidungen, die für eine sehr große Zahl von Bürgern mit einer Hauptstadtentscheidung notwendig werden könnten, räumte der Bundespräsident im Hinblick darauf ein, daß Tausende von Beamten mit ihren Familien von Bonn nach Berlin ziehen müßten. Es gelte, „angemessene Lösungen für individuelle Schicksale zu finden“.

Der Vorstoß Weizsäckers für Berlin als Hauptstadt ist bei BRD-Politikern mit Zurückhaltung aufgenommen worden. Vor allem Regierungschefs der Bundesländer sprachen sich für eine Teilung der Hauptstadtfunktionen zwischen Bonn und Berlin aus.

In der Bonner Regierungsspitze als auch in der CDU-Führung wird die Auffassung des Bundespräsidenten „respektiert“, hieß es gestern. Bundeskanzler Helmut Kohl sei aber nach wie vor der Meinung, daß ein gesamtdeutsches Parlament über die Hauptstadt entscheiden solle. In der CDU-Zentrale wurde betont, erst nach einem Rückzug der sowjetischen Truppen aus Berlin und Umgebung solle die Hauptstadtfrage gestellt werden. Aus dem Urlaub meldete sich Oskar Lafontaine (SPD) mit der Bemerkung, die Hauptstadtfrage stehe derzeit nicht an. Und CSU-Generalsekretär Erwin Huber: „Wir sehen keinen Entscheidungsdruck.“ Die nordrhein-westfälische SPD -Landesregierung bekräftigte, daß Berlin nicht als künftige Hauptstadt im Staatsvertrag festgeschrieben werden dürfe. Der Chef der Düsseldorfer Staatskanzlei, Wolfgang Clement, hatte für diesen Fall sogar mit einem Nein Nordrhein -Westfalens zum Staatsvertrag gedroht.

Der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) meinte, das vereinigte Deutschland brauche seine Bedeutung nicht durch eine repräsentative Hauptstadt zu unterstreichen. Wesentliche Teile der Hauptstadtfunktionen sollten in jedem Fall in Bonn verbleiben. Indirekte Unterstützung bekam Weizsäcker von Außenminister Hans -Dietrich Genscher. Der plädierte für eine Entscheidung ohne Aufschub, auch wenn der Umzug aller Ministerien „nicht von heute auf morgen“ möglich sei.