Immaterialschlacht

Mediengeschichte wird handgreiflich  ■  K O M M E N T A R

Ausgehend von der Zukunftshoffnung auf zehn relativ ereignislose Jahre, lassen sich für dieses Jahrhundert vier Ereignisse konstatieren, die die Welt erschütterten. Der Erste Weltkrieg, der deutsche Nationalsozialismus, die Art und Weise der Beendigung des Krieges zwischen den USA und Japan sowie die Transformation des real versuchten Sozialismus.

Dabei ist nicht in erster Linie die Tatsache interessant, daß die Zentren zweier Ereignisse in Deutschland lagen und deutsche Tatkraft die anderen beiden Eruptionen mit zu inszenieren half. Ergiebiger scheint es, das Augenmerk auf die Produzentenrolle der Massenmedien bei diesen historischen Spitzen auf der scheinbar nach oben offenen Geschichtsskala zu richten. Vom heutigen Telecommander -Liegepunkt aus mutet die Verbreitung der Nachricht vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges wie eine Von-Mund-zu-Mund -Hurra-Durchsage an. Ereignis Nummer zwei stützte sich dann zwar schon auf eine technische Innovation namens Volksempfänger, allein, das technische Gerät konnte 6 Millionen Juden bei der Vermeidung ihres frühzeitigen gewaltsamen Todes nicht behilflich sein: Die demokratische Rückkoppelungsschleife war noch nicht verlegt.

Erst mit Ereignis Nummer drei stellte sich ein diskutables Äquivalenzverhältnis zwischen Potentialität und Tatsächlichkeit her. Die Anzahl der Hiroschima-Toten wurde im Block-Abschreckungskalkül zur Referenzgröße für den globalen Holocaust. Beeindruckend auch die Arithmetik: Wie viele Normalkriegsopfer konnten durch den Abwurf der Bombe eingespart werden? Ist es, vom militärischen Standpunkt aus, günstiger, eine Atombombe auf eine 2,5-Millionen-Großstadt zu werfen oder auf ein in der Nähe gelegenes Atomkraftwerk...? Welche klimatischen Konsequenzen hat ein atomarer Schlagabtausch, bei dem die 15.000fache Sprengkraft der Hiroschima-Bombe freigesetzt wird... usw.? Fragen, die nicht mehr als militärisches Geheimnis behandelt und mit der Macht des Faktischen beantwortet werden mußten, sondern über den inzwischen etablierten medialen Rückkoppelungseffekt zum Garanten einer jahrzehntewährenden munteren gesamtgesellschaftlichen Diskussion wurden.

Daß sich dabei die Gewichtung von der tatsächlichen Existenz der Atombombe immer mehr auf die Möglichkeit ihrer Explosion hin verlagerte, signalisiert eine Umbesetzung in der Kommandozentrale: Wo früher allein die Militärs das Sagen hatten, entschieden in zunehmendem Maße Journalisten mit. Da diese Strategie jedoch noch auf die Bezugsgröße der real existierenden Bombe angewiesen war, konnten die Vertreter der Medien auf dem neuen Informationsschlachtfeld nicht die alleinige Oberbefehlsgewalt gewinnen. Sie mußten einen anderen Kampfplatz eröffnen.

Diese Gelegenheit bot sich, als die KPdSU eine personelle Veränderung ihrer Führungsmannschaft einleitete und einen Mannschaftskapitän wählte, der eine vorsichtige Reform des sozialistischen Systems einzuleiten gedachte, und zwar - das war das eigentlich Umstürzlerische - mit den Massenmedien als Instrument seiner Politik.

Kaum daß er sich's allerdings versah, war er zum „Mann des Jahres“ gewählt und geriet zunehmend in Atemnot; die global verfreiheitlichte Presse produzierte ein Ereignisstakkato, hinter dem er kaum noch herreformieren konnte. Das Machtverhältnis hatte sich umgekehrt: Jetzt waren es die Medien, die die Inszenierung des Zusammenbruchs eines sozialistischen Systems beschlossen und betrieben.

Etwas fehlte ihnen dazu noch, und das waren die sinnfälligen optischen Requisiten. An welchem Drehort ließ sich der Endsieg der Medien am besten ins Bild setzen? Richtig, in der Freiheitsenklave Berlin und mit dem absoluten Materialanachronismus der Mauer. Denn hier waren Metapher und Konkretion aufs wunderbarste identisch. Mit der Mauer fiel auch die Handgreiflichkeit von Geschichte.

Die Konsequenzen aus dieser Entmaterialisierung von Geschichte qua Medienherrschaft lassen sich derzeit noch gar nicht absehen. Daß wir womöglich schon Zeugen der einsetzenden historischen Entropie sind, sei immerhin angedeutet.

Festzuhalten gilt jedoch, daß es nicht die Politiker, nicht die Militärs und schon gar nicht „wir-sind-das-Volk“ waren, die die Mauer zum Einstürzen brachten. Es waren die vielen Männer und Frauen an ihren Text-, Ton- und Bildmaschinen. Und so ist es nur gerecht, wenn sie sich am Ort ihres größten Sieges ein ehrwürdiges Denkmal setzen. Daß ausgerechnet diese Sieger noch einmal sehnsüchtig rückfällig werden und ihre Macht vergegenständlichen, ist vermutlich eine der letzten Listen der Noch-Geschichte.

Peter Blie