SO WAR DER OSTEN...

■ ...des Westens: Eine Spätspurenlese im Niemandsland

Früher hatte ich immer gedacht, daß unbedingt etwas geschehen würde, wenn man über die Grenze gehen würde. Es geschah nichts. Ich war fünfzehn, hatte meinen ersten Reisepaß und war zwei Wochen lang in Röntgenthal bei Berlin bei den Großeltern zu Besuch. Jeden Tag setzte ich mich wißbegierig in den Palast der Republik und fragte, was denn passieren würde, wenn die Grenzen aufgemacht würden. Jeden Tag schrieb ich ins Tagebuch über das Abenteuer DDR. Auf dem Alex kamen die Vopos, wenn man sich auf den Boden gesetzt hatte, weil die Bänke besetzt waren. Hippies setzten sich immer auf den Boden. Die mußten ihre Papiere zeigen. „Machen Sie das zu Hause auch so?“ Einmal hatte ich vergessen, mir eine S-Bahn-Karte zu kaufen und hielt dem Kontrolleur eine alte hin. Er ging weiter.

Vorgestern, in der Nacht, drehte ein Polizeiauto langsam seine Runden um den Weißensee. Ein DDR-Kollege hatte uns da hingeschleppt. Leute, die im Wasser stehen, werden rausgebeten, weil man nachts leicht die „Kontrolle verlieren“ könnte. Neulich, so sagt der Bulle, sei erst jemand da ertrunken. „Wann?“ - „1978.“ Vorsprung an Authentizität

Am Brandenburger Tor, Silvester, eilten ständig freundliche Menschen auf uns zu, uns zärtlich zu umhalsen. Katja wollte nur die umarmen, die sie davor schon kannte. Sie ging dann.

Die antifaschistische Demo, die später als Staats-, Stasi oder letzte SED-Aufbäumdemo denunziert wurde, schien uns um so vieles wirklicher zu sein als Vergleichbares im Westen. Am sowjetischen Ehrenmal waren nicht die StudentInnen und antifaschistischen Funpunker, die ihre Kleinfamilienprozesse zu Ende führen wollten, sondern vor allem Leute aus dem Berufsleben, ganze 200.000. Am auffälligsten war, daß die Leute den westmarxistischen Beiträgen zuhörten und dann erst pfiffen. Einer erzählte von Diskussionen in Leipzig, vom arrogant-alternativen Geschwätz der Leute vom Neuen Forum.

In einer Kneipe wiederholt ein 23jähriger DDR-Junge, der zwei Jahre im Knast war, immer wieder, daß die Autonomen rotlackierte Faschisten seien, weil sie Gewalt anwendeten. Und die RAF, das wären auch Faschisten gewesen, weil sie „unmenschlich“ gewesen seien. Er vermischt und verwischt alles und hat die Authentizität auf seiner Seite. Am Ende ist er traurig, daß wir böse auseinandergehen. Vorsprung an freier Rede

Jörg Friedrich Schinkel, ein Leipziger Liedermacher, schreibt einen Leserbrief im 'ND‘: „Lieber Wolf! Weißt Du noch, 1976, im November? So lange schon schäme ich mich, bei Deiner Ausbürgerung mitunterzeichnet zu haben. Nun stand ich nächtens in Leipzig ganz in Deiner Nähe, und Du riefst mit Deiner grollenden Stimme mir direkt ins Ohr, was Du von diesem Lande hältst, und ich wäre gerne zu Dir auf die Bühne gestiegen und hätte Dir gesagt, daß Du nun nicht mehr leiden sollst. Aber wiederum fehlte mir dazu der Schneid...“ In der 'FR‘ faselte Konrad Weiß was vom warm umsorgenden „Mutterland“, das sich die Bürgerbewegungen statt eines harten, kalten Vaterlands gewünscht hätten. Deine Linken! Und im Westen darf man jetzt erst recht. In der taz wurde von „antifaschistischen Schmierereien“ geschrieben, die auf frischverputzten Türen und Wänden aufgetaucht seien, und „pervers“ schon in ihren Ursprüngen sei die DDR gewesen. Im debil-rassistischen Yuppieblatt 'Wiener‘ („wir hegen sie vermutlich alle, die Vorurteile vom zwiebel- und cevapcicifressenden Jugo, der schneller ein Messer in der Hand als den Mund aufgemacht hat - doch Titos einstmals wilde Kinder haben sich längst Disziplin angewöhnt und sind etwas umgänglicher geworden“) wurden die Rübermachzonis schon im November unter dem Titel Wollt ihr die totale Lust nackt feilgeboten. Dort hieß es: „Im Osten ist es mit dem Sex wie mit dem Einkaufen: Du holst ihn dir im Vorübergehen.“ Im Juni dann wurde man genauer, die DDR wurde als Billigsex-Kolonialparadies annonciert: „Ihr Sex hat Weltniveau: Die emanzipierten Ost-Mädchen haben keine Orgasmusprobleme und geben in der Liebe den Ton an, (...) aber das merkt man erst, wenn man sie flachgelegt hat. (...) Anmache in der DDR ist eine leichte Übung. Ein Gläschen Rotkäppchensekt, ein vielsagender Blick, eine Runde Schmuse -Stehblues, und ab in die Kiste. (...) Die Ostberliner Freizügigkeit wird nur noch von der Zügellosigkeit übertroffen, die in Chemnitz herrscht. Besonders in der Tanzbar ‘Kosmos ist die Anmache gnadenlos.“ Vorsprung an Deutschland

Sogar im 'ND‘ wird inzwischen von „uns“ gesprochen. Der Fußballberichterstatter meint damit „die Auswahl der BRD“.

Jeden Tag vergesse ich, die DDR-Nationalhymne aufzunehmen. Mittzwanziger DDR-Männer stehen überall herum und halten dir ihr Geld in Bündeln vor die Nase; ein paar deklassierte Penner blöken was von „Deutschland“. Am Anfang waren die Zeitungsläden überfüllt mit DDR-Männern, die häufig auch gleich in den „Bravo-Fanclub“ eintraten und stolz ihre Mitgliedsausweise schwenkten. In der taz letzte Woche drückten sich ein paar Männer schamhaft wie im Pornoshop rum, um die Stasi-Listen zu kriegen. Den Potsdamer Platz besetzen seit ein paar Monaten unbeachtet Ost-Autonome. Auf einer ihrer Hütten steht: „Wir wollen nicht, daß Ihr uns nicht wollt.“ Absprung ins Auto

Die DDR-Ampelmännchen sehen forscher, frecher und wohlgenährt netter aus. Aber die Vereinigung fordert inzwischen ihre Opfer, der Druck der Straße wächst.

Am Wahltagabend in der „Schildkröte“, ist die Stimmung, obgleich fast alle CDU gewählt haben, äußerst aggressiv. Ein langhaariger CDU-Wähler, Stammgast, Alk, zeigt höhnisch mit dem Finger auf die bescheidenen Bürgerbewegungsergebnissäulen und ist kurz davor, seinen 60jährigen SPD-Nebenmann zusammenzuschlagen. Ein anderer, der absurderweise als Totengräber arbeitet, weil er bei einem Autounfall sein Bein verlor, ist fürs Neue Forum und trinkt wortlos fast den ganzen Abend.

Die breiten Straßen in der Stadtmitte kehren sich gegen die Bewohner der Stadt. Je breiter, desto mehr Autos. Das Angebot bestimmt die Nachfrage. In Treptow wird eine Autobahn geplant. Um den Potsdamer Platz herum und in Kreuzberg herrscht Dauerstau. Der deutsche Hippieschriftsteller Hermann Hesse hatte in seinem Steppenwolf zum Guerillakrieg gegen die Automobile aufgerufen: „Endlich sich einzusetzen für die Menschen gegen die Maschinen, endlich die (...) Reichen, die mit Hilfe der Maschinen das Fett aus den anderen preßten, samt ihren hustenden, böse knurrenden, teuflisch schnurrenden Automobilen totzuschlagen (...).“ Es herrscht Krieg in seinem Büchlein; Fußgänger und Radfahrer erschießen die Autofahrer und zerstören die Städtezerstörer.

Am Anfang der Prenzlauer Allee findet sich der „Alte Friedhof der Kirchengemeinden von St. Nicolai und St. Marien“. Hier ruht „meine Mutter“ und „Anna Schätzchen“ und Herr Süßbier. Brennesseln wachsen meterhoch. Es riecht wunderbar. Das Gras ist weich. Wünsche nach geschlechtlichem Austausch lassen sich hier sicher angenehmer verwirklichen als auf dem staubigen Todesstreifen. Durch die Natur hindurch hört man den Verkehrslärm. Hier müßte das Hauptquartier einer Antiautoguerilla sein. In den Schuppen am Rande könnte man Krähenfüße und Luftgewehre verstecken, mit denen man die Autoreifen zerschießen würde. Durch das Ornament einer Gruft schaut eine bärtige Figur. Ist es Jesus? - Nein, der Urgroßvater. Am Rande steht das verwunschene Friedhofswärterhäuschen. Der Friedhof ist zwischen 8 und 18 Uhr geöffnet.

Detlef Kuhlbrodt