Lesend in die Ferne

■ Ein kleiner Überblick über pazifische Literatur.

ein Ärger über fehlgeleitetes Reisegepäck, keine geradebrechten Auseinandersetzungen mit argwöhnischen Zollbeamten, keine Moskitos, keine Darmkoliken, kein Sonnenbrand - Lese-Reisen, auch in die Südsee, sind allemal die ungetrübtesten und streßfreiesten Abenteuer. Wer sich also an dem einen oder anderen grauen deutschen Regentag lesend an den palmüberschatteten Strand einer türkisgrünen Lagune versetzen möchte, dem sei im folgenden der passende Treibstoff für die Lehnstuhl-Reise empfohlen.

Nicht von den Klassikern des Genres soll die Rede sein, nicht von Melville, Stevenson, London oder Maugham - die verstehen sich von selbst -, sondern von neueren belletristischen Büchern über und aus Ozeanien. Denn das gibt es inzwischen: eine junge eigene Literatur der Südsee. Und ganz vereinzelt sogar auch schon in deutscher Übersetzung.

Albert Wendt ist trotz seines urdeutschen Namens Samoaner durch und durch. Daß es da zu langvergangenen Kolonialzeiten mal einen deutschen Vorfahren in der polynesischen Genealogie gegeben hat, ist weder dem Autor noch seinem Werk anzumerken. Im Gegenteil, Wendts Romantrilogie Der Clan von Samoa (Taschenbuch Nr.8 der Reihe Dialog Dritte Welt im Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1982) ist geradezu ein gesamtgesellschaftliches Tableau samoanischen Lebens von den 30ern in die 70er Jahre. An drei Generationen einer Großfamilie wird der zersetzende Einfluß westlicher 'Kultur‘ auf polynesische Wertvorstellungen und Lebensweise geschildert - bei aller emotionalen Parteinahme nie zeigefingerhaft bevormundend, sondern in einem episch ausgefächerten Beziehungsnetz vieler Einzelschicksale.

Ein paar hundert Seemeilen südlich von Albert Wendts Heimat, in Tonga, ist Epeli Hau'ofa zu Hause, ein polynesischer Mark Twain in progress. Als 1983 seine tonganischen Satiren Tales of the Tikongs erschienen, ging ein homerisches Gelächter über die „freundlichen Inseln“. In das einzustimmen ist seit 1988 auch hierzulande möglich seit der kleine Verlag Tolling, Nürnberg, in seiner Reihe Literatur des Pazifik eine Auswahl der Geschichten unter dem Titel Rückkehr durch die Hintertür veröffentlicht hat. Auch Hau'ofas Thema ist das Aufeinanderprallen zweier Welten, die nicht die mindeste innere Beziehung zueinander haben; schon gar nicht die ihre Dominanz einfordernde Welt der weißen Usurpatoren zur schutzlos kontemplativen Lebensweise der polynesischen Inselwelt. Was Wendt in unzähligen Details und vielen handelnden Personen behutsam auffächert, bringt Hau'ofa in seinen skurrilen Geschichten, die darum nicht weniger Südsee-Atmosphäre vermitteln, schnell und genau auf den absurd-ironischen Punkt. Seine Geschichten sind so böse und maßlos, wie sie liebevoll und saukomisch sind.

Im selben Verlag ist unter dem Titel Inselfeuer ein Band mit Gedichten der tonganischen Lyrikerin Konai Helu Thaman erschienen. Auch hier, in der Konzentrierung auf jeweils wenige Zeilen, zumeist dasselbe Thema: Der Schock zwischen den Kulturen. In eindrücklichen, scharf umrissenen Bildern die Trauer um das unweigerlich Verlorengehende, ohne Sentimentalität, aber im Pathos einfacher Würde.

Als weißer, als westlicher Autor unsentimental über die Südsee zu schreiben, zudem kenntnisreich und trotzdem diese Kenntnis dem Leser nicht ständig mit der Attitüde des Weitgereisten um die Ohren schlagend, ist so einfach nicht. Das Thema ist von Klischees umstellt. Gerade darum liebe ich einen schmalen Band mit Südsee-Geschichten besonders: Im Schatten des Malers von Rudolf Riedler (Münchner Edition, Schneekluth Verlag, München 1984). Riedler erliegt der Gefahr in keinem Moment, und doch ist in seinen Geschichten jene schwer zu beschreibende, jene weiche, träge, fernsüchtige ozeanische Grundstimmung immer gegenwärtig. Nahe Geschichten aus der Weite. Die Schicksale, die Riedlers Geschichten schildern - Momentaufnahmen von Schicksalen, Novellen im Embryonalzustand - sind simpel, fast banal; vor allem aber: sie sind konkret in einer konkreten Umwelt, dabei nicht eindimensional. Sie sind nicht ausgelesen, wenn sie zu Ende gelesen sind. Sie schreiben sich fort im Kopf des Lesers.

Treibstoff genug? - Wenn nicht, dann ist da noch immer und immer wieder des Suwarow-Eremiten Tom Neale liebenswerte Autobiographie, die bei uns unter dem bauerfängerisch einfallslosen Titel Südsee Trauminsel (im Original: An Island to Oneself) erschienen ist. - Und da wäre vielleicht auch noch Die Insel hinter den Inseln, von der an anderer Stelle in diesem taz-special zu lesen ist. Doch als Herausgeber jenes Buches bin ich zuallerletzt befugt, darüber anpreisend zu schreiben...

Eine Warnung: Lese-Reisen sind so ungefährlich nicht, wie eingangs behauptet. Denn irgendwann will man selber hin. Und dann ist man in Papeete, das Reisegepäck aber in Sydney, ist man argwöhnischen Zollbeamten, Moskitos, Darmkoliken und Sonnenbrand ausgesetzt. - Dann wird sich entscheiden, ob das und anderes mehr dafürsteht.