: Hinter den Wellenbergen...
■ Unter dem geheimnisvollen Titel „Wenn du willst, hatten wir nichts weiter im Sinn, als den uralten Traum vom irdischen Paradies zu verwirklichen“, erschien 1982 in der taz ein Text, der von einer Gruppe Europäer berichtete, die das Wagnis unternommen hatte, sich auf einer bislang unbewohnten Südseeinsel anzusiedeln. Dieser Bericht und auch ein Buch, das über das Inselexperiment berichtete, haben eine Flut von Briefen an die Inselbewohner ausgelöst; häufig mit der Bitte, die Insel, deren Name und geographiche Lage von ihren Bewohnern bis heute nicht preisgegeben ist, besuchen zu dürfen.
Aus Anlaß dieses Südsee-specials haben die Inselbewohner noch einmal „ihr Schweigen gebrochen“ und folgenden Text via
HANS-CHRISTOF WÄCHTER an die taz geschickt.
on wegen Weltabgeschiedenheit und hinter dem Mond! Die Vorstellung, unsere pazifische Insel mit ihren Palmen, Stränden und Lagunen schwebe unberührt und weit entfernt vom Weltgeschehen durch den Ozean - eine Vorstellung, der sogar wir selbst, die es besser wissen sollten, nur zu gern immer wieder erliegen -, sie erweist sich mitunter auf unerwartet spektakuläre Weise als das, was sie in Wahrheit ist: ein anachronistischer Wunschtraum. Ein eklatants Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit:
Es war kurz nach acht Uhr am Morgen des 10. November. Einer der ersten ausdauernden Regenfälle der beginnenden wetseason hatte während der ganzen Nacht auf die Dächer getrommelt und die Wege in Bäche verwandelt. Doch mit der Morgendämmerung waren die schweren Wolken weitergezogen. Jetzt dampfte der Wald, und das Grün der Blätter und des Grases glänzte frisch lackiert. Im Dorf begann der Tag wie immer: Töpfe klapperten, blauer Rauch stieg von den offenen Herdstellen und waberte durch die Kronen der Brotfruchtbäume, auf dem Teich krakeelten die Enten.
Plötzlich übertönte ein dumpf-wilder Trommelwirbel die gemächlichen Morgengeräusche, und eine Stimme schrie: „Ae ae ae! Die Mauer, na bai vatu, the wall, le mur, in Berlin ist die Mauer gefallen, ae ae ae!“ - Es war Martin, der auf dem Dorfplatz die Trommelstöcke auf der großen lali wirbeln ließ und die unerhörte Neuigkeit ausschrie. Beim Rasieren hatte er sie gerade in den BBC-Worldnews seines Weltempfängers aufgeschnappt. Da war es in Berlin 21 Uhr am 9. November und das Ereignis keine zwei Stunden alt. Das weitere, die überschnappende Euphorie und nationale Hysterie, haben wir dann in stündlichen Direktübertragungen und fast zeitgleich am Radio miterlebt, ungeachtet 20.000 Kilometer Entfernung und elf Stunden Zeitdifferenz. - Soviel zum Thema Weltabgeschiedenheit.
Dies soll kein neuer „Inselbericht“ sein, eher eine Erklärung, warum wir einen solchen trotz zahlreicher Aufforderungen denn doch nicht geschrieben haben in den letzten Jahren; geschweige denn eine Fortsetzung des „Insel hinter den Inseln„-Buchs. Es hat uns davon weniger jener Illustrierten-Reporter abgehalten, der es sich, wie wir hörten, zum Sport gemacht hatte, uns ausfindig machen zu wollen und exklusiv - ob wir es nun wollten oder nicht - vor die Hasselblad-Pistole zu kriegen. Zu denken gegeben haben uns vielmehr die zahlreichen Ansuchen und Bitten, zu uns zu kommen, obwohl wir in unserem Buch begründet zu haben glaubten, warum das nicht möglich sei.
ie alle, da machen wir Inselbewohner leider keinen Unterschied, sind wir ein paar Jahre älter geworden, seit wir das Buch geschrieben haben. Michael, Torsten und Iliaseri, die Dreierbande, Initiatoren und Hauptautoren des Buches, die damals elf Jahre alt waren, sind nun 19 beziehungsweise 20. Und Inken ist 23. Wir sehen die vier auf der Insel gegenwärtig nur mehr sporadisch, während der Semesterferien und zu Weihnachten vor allem.
Ili, der eines Tages auf der Nachbarinsel die Position seines Vaters als Chief übernehmen wird, studiert derzeit am Institute of Rural Development der University of the South Pacific in Tonga, Torsten absolviert 50 Seemeilen entfernt ein Praktikum in der Konstruktionsabteilung einer kleinen auf den Bau von Fischkuttern spezialisierten Werft und Michael schippert irgendwo in den Weiten der Inselwelt Palaus und Micronesias herum; unterwegs, um zusammen mit anderen Studenten der USP einen Video-Lehrfilm über „Mariculture and Aquaculture Farming“ zu drehen, das heißt: über die kontrollierte Aufzucht und Nutzung von Riesenmuscheln (Giant Clam), Trochus-Seeschnecken, Hawksbill -Meeresschildkröten und verschiedenen Fischarten. Den Spaß am Schreiben hat er seit der Arbeit am Inselbuch nicht verloren: Vor einigen Monaten sind sechs Gedichte von ihm in einer neuseeländischen Anthologie erschienen, und demnächst wird vielleicht ein Band mit pazifischen Geschichten folgen. Inken schließlich, die im vorigen Jahr ihre Ausbildung als Krankenschwester beendet und entschieden hat, doch nicht Medizin zu studieren, arbeitet mit Elan in einem kleinen medizinischen Team, das dabei ist, auf der Nachbarinsel ein Gesundheitszentrum aufzubauen. In ein oder zwei Jahren wollen Inken und Petero, ihr rotumesischer Freund, heiraten und dann zu uns zurückkehren. Soviel, in Kurzform und Ausschnitt, über den Fortgang der Ereignisse im Leben der vier Hauptpersonen aus dem Buch.
un feiert unser polynationales Inselexperiment - inzwischen ist es, meinen wir, über das Experimentalstadium allerdings weit hinaus - in diesem Jahr schon Zehnjähriges! Und ist mit den Jahren weder saturiert noch auseinandergeflogen, sondern noch immer eine stets neue Herausforderung, so alltäglich gemächlich - vom Wechsel der Regen- und Trockenzeiten, von den Passatwinden und Gezeiten bestimmt - unser Leben auch verläuft. Da gibt es dann den einen und anderen Coup d'Etat, den einen und anderen Hurricane, die eine Hochzeit und den anderen Todesfall, die Zäsuren setzen - aber morgens um sechs hebt sich die Sonne aus dem gläsernen Graublau des Meeres, und abends um sechs sinkt sie in Purpur und Gold gehüllt wieder ins Meer, tagtäglich. Unser Leben ist, sind wir ehrlich, ziemlich langweilig: Taro und Kasava pflanzen, Kasava und Taro ernten, Kopra machen, Muscheln sammeln, Ziegen hüten, Ziegen schlachten, Brennholz schlagen, Häuser bauen und - nach dem allfälligen Hurricane - wieder neu bauen. Und immer so fort. Dafür, daß diese lange Weile ihre täglichen kleinen Aufregungen und Erfolge hat, die insgesamt so etwas wie Glück ausmachen und uns jede denkbar mögliche Lebensalternative fragwürdig erscheinen lassen, mag unser nun schon zehnjähriges Inselleben stehen. Ein Glück im Winkel?
Mitunter sehen wir, nächtens in den Himmel hinaufträumend, einen Satelliten seine eilig-stete Bahn durch die Sternhaufen ziehen, auf programmiertem Kurs jagend, sicher nicht der friedlichen Kommunikation dienend. Das ist jedesmal wieder ein kleiner Erinnerungsschock: Wir sind nicht entlassen aus Armageddon! Das technisierte Mißtrauen, das weltweit bereitstehende, durch die Stratosphäre transportierte, tief unter dem Meeresspiegel auch an unserer Inseln vorbeischleichende Vernichtungspotential hat uns nicht aus seinen Klauen entlassen, nur weil wir uns in einer Nische wähnen.
Wir müßten schon Augen und Ohren fest verschließen, was heißt: auf jede Kommunikation mit der Außenwelt verzichten, wir müßten unser ganzes Vorwissen aus dem Gedächtnis streichen und uns nur auf den in der Tat ungetrübten Augenschein unserer kleinen Insel verlassen, wollten wir die außerordentliche Gefährdung unserer ozeanischen Umwelt nicht wahrnehmen.
ie pazifische Inselwelt lebt in einer seit Jahrtausenden austarierten empfindlichen Balance, von deren Gleichgewicht Natur und Menschen, das gesamte Ökosystem gleichermaßen abhängig sind. Wird einer der bedingenden Faktoren verändert oder außer Kraft gesetzt, kippt alles. „Der weiße Mann“ hat seit seinem Erscheinen im Pazifik mit ingrimmiger (Selbst -)Zerstörungswut und gnadenloser Ahnungslosigkeit darauf hingearbeitet, diese Balance auszuhebeln. Waren es im 18. und 19. Jahrhundert die eingeschleppten Krankheiten von Masern bis Syphilis, die seuchenartig ganze Archipele entvölkerten, waren es labourtrade (was nichts anderes als eine Umschreibung für Sklaverei ist) und Unterdrückung der autochthonen Kulturen durch die Missionsgesellschaften, so hält die Büchse der Pandora im 20. Jahrhundert noch weitaus subtilere und dabei radikalere Mixturen bereit, den Traum von der Südsee unwiderruflich und für alle Zeiten in einen Alptraum zu verwandeln. Denn jetzt geht es wirklich an die Wurzeln, jetzt sind die Grundlagen, sind Erde, Meer und Himmel dran.
Wenn stimmt, was die wissenschaftlichen Horrorszenarien -Schreiber prognostizieren, dann gibt es in ein- oder zweihundert Jahren unsere Inseln - außer wenigen senkrecht kahl in einen erbarmungslos sengenden Himmel ragenden Vulkanfelsen - nicht mehr. 50 Zentimeter oder gar ein Meter Anstieg des Meeresspiegels bedeutet für unzählige Inseln, ja ganze Inselstaaten (Kiribati, Tuvalu) das Aus. Zwei Generationen können sich womöglich über das Problem noch hinwegtäuschen. Was aber dann?
Und was ist längst schon zuvor gekommen?! Das, dessen Beginn wir vor unserer Tür derzeit miterleben. Listen wir es auf:
-Die gnadenlose, irreversible Rodung des Regenwaldes auch in unserer Region, in Papua Neu Guinea und Borneo, dem Gebiet mit dem, nächst dem Amazonasbecken, größten zusammenhängenden Primärwald.
-Die bedenkenlose Ausräumung der Meeresressourcen durch die teuflische neue Technik des driftnetting, der „walls of death“, die japanische, südkoreanische und taiwanesische Fischereiflotten durch unser Meer ziehen. Netze von 25 Kilometer Länge und mehr, in denen alles verendet, was im Wasser lebt, Delphine, Wale, Robben, Seeschildkröten, Meeresvögel.
-Die skrupellos in Kauf genommenen Spätfolgen der Atombombentests auf Bikini, Mururoa, Fangataufa. Schleichende Radioaktivität, die ganz allmählich und klandestin über Wind und Meeresströmungen in unser Leben eindringt. Und was passiert, wenn die radioaktiv gesättigten Test-Inseln, denen Wissenschaftler heute schon nur mehr die fragile Konsistenz von mürbem Zwieback attestieren, eines sicher zu erwartenden Tages auseinanderbrechen und ihr tödliches Innenleben in den Ozean verströmen?
Als hätte die pazifische Region nicht auch ohne dieses Zukunftspandämonium schon genügend importierte Probleme wie Kulturverlust, Inselflucht, Jugendarbeitslosigkeit, Alkoholismus, Kriminalität und Massentourismus. (Die japanischen Großindustriellen kaufen gegenwärtig nicht nur van Goghs und Renoirs, sondern auch jeden pazifischen Inselhektar, auf dem sich Touristen-Ressorts hochziehen lassen.)
Nein, weltabgeschieden ist unser fernes Inseldomizil wahrlich nicht. Wir sind mittendrin. Und versuchen, auf unterschiedlichste Weise, uns einzumischen, so begrenzt die Möglichkeit, so gering die Wirkung auch sei. Und mitunter, wenn wir tagtäglich die Sonne aus dem Meer steigen und wieder ins Meer sinken sehen, im ewigen Gleichklang, mitunter haben wir die verrückte, verzweifelte, vage Hoffnung, daß es uns Menschen womöglich doch nicht gelinge, diesen schönen Planeten vollends zu ruinieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen