Der Traum vom Paradies

■ Der Traum vom Paradies * Der Mythos Südsee auf dem Prüfstand.

Von

HANS-CHRISTOF WÄCHTER

chlanke Kokospalmen, sich wiegend im sanften Passat jadeblaue Lagunen, von weißen Sandstränden gesäumt - vor dem Korallenriff die schäumende Gischtwand der Brandung - im tiefen Urwald kristallklare Wasserfälle - lächelnde Insulaner, blumengeschmückt, wie von Gauguin gemalt: Südseezauber. Das non plus ultra aller Ferienträume, angepriesen in den Prospekten der Reiseveranstalter weltweit; einschmeichelnd, schwärmerisch, bonbonfarben und klebrig süß.

Solche Schwärmerei hat Geschichte. Ihr historischer Ausgangspunkt kann fixiert werden:

Einer der nobleren Londoner Clubs im Jahre - sagen wir 1793. Etwas abgesondert sitzen, in angeregter Unterhaltung, drei Männer und tauschen Reiseerinnerungen aus. Der Jüngste, der deutsche Naturforscher Georg Forster, Begleiter von James Cook auf dessen zweiter Weltumseglung 1772 bis 1774, hat das Wort:

„Das Ufer, dessen schlängelnder Krümmung wir aufwärts folgten, brachte uns zu einem senkrecht stehenden und mit mancherlei wohlriechenden Gebüsch behangenen Felsen, von welchem eine kristallklare Wassersäule in einen kleinen Teich herabstürzte, dessen anmutiges Gestade überall mit bunten Blumen prangte. Es war eine der schönsten Gegenden, die ich in meinem Leben gesehen.“

„Wie recht Sie haben, Monsieur Forster! Ich bin mehrmals in das Innere der Insel hineingegangen; es schien mir der Jardin d'Eden zu sein.“ Um gut zwanzig Jahre älter als seine Gesprächspartner, ist der 64jährige Louis Antoine de Bougainville eine imponierende Erscheinung in seiner goldbetreßten Admiralsuniform. Auch er hatte, 1765 bis 1769, als einer der ersten die Welt umsegelt. Er fährt fort:

„Man sah die schönsten Wiesen, mit den herrlichsten Fruchtbäumen besetzt und von kleinen Flüssen durchschnitten, welche allenthalben eine köstliche Frische verbreiteten. Wir fanden im Schatten der Bäume Gruppen von Frauen und Männern lagern, welche uns freundschaftlich grüßten. Allenthalben herrschten Gastfreiheit, Ruhe, sanfte Freude, und dem Anschein nach waren die Einwohner sehr glücklich.“

Nun ergreift, ernst und bedächtig, der dritte im Bunde das Wort; William Bligh, auch er in Uniform, allerdings in der viel schmuckloseren eines englischen Kapitänleutnant. Als Reisegefährte Cooks und Forsters, zudem als Kommandant der folgenreichen Brotfrucht-Expedition von 1788 ebenfalls ein kompetenter Südsee-Kenner:

„Sie werden sich fragen, was denn die Meuterei auf der 'Bounty‘ veranlaßt haben könnte? Darauf kann ich nur mit der Vermutung antworten, daß die Meuterer sich auf der Insel ein glücklicheres Leben versprachen, als sie wahrscheinlich in England zu erwarten hatten. Dies und einige Bindungen an eingeborene Frauen waren meiner Meinung nach die Hauptursachen des unglücklichen Ereignisses. Die Vornehmen der Insel hatten große Zuneigung zu unseren Leuten und versprachen ihnen ansehnlichen Besitz auf der Insel. So ist es nicht verwunderlich, daß einige Seeleute verführt wurden, sich auf der schönsten Insel der Welt niederzulassen.“

Bougainville hebt sein Glas: „Messieurs, einen Toast auf unsere edlen Wilden! Ihr glücklichen und weisen Menschen! Immer werde ich mich mit Freuden an die Augenblicke erinnern, die ich unter euch zugebracht habe, und solange ich lebe, werde ich die glückliche Insel Nouvelle Cythere rühmen; sie ist das wahre Utopia.“

Nach einer Pause schließt Forster nachdenklich an: „Es ist wirklich im Ernste zu wünschen, daß der Umgang der Europäer mit den Südsee-Inseln rechtzeitig abgebrochen werden möge, ehe die verderbten Sitten der zivilisierten Völker diese unschuldigen Menschen anstecken können, die hier in ihrer Unwissenheit und Einfalt so glücklich leben. Aber“, resümiert er mit einem Seufzer, „es ist eine traurige Wahrheit, daß Menschenliebe und die politischen Systeme Europas nicht miteinander harmonieren.“

ollte es noch unklar sein: die Expertenrunde schwärmte von Tahiti, der „Neuen Insel der Aphrodite“, dem Zentrum und Inbegriff aller Südsee-Verklärung. Das Gespräch ist fiktiv, doch hätte es so oder ähnlich durchaus stattfinden können. Denn was die Weltgereisten da austauschen, sind Zitate aus ihren Reisebeschreibungen.

Damals, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, gehörten sie zu den ersten Europäern, die jene mythische „Glückliche Insel“ betreten hatten. Zwar hatten sich europäische Abenteurer, Kaufleute, Forscher und Piraten schon seit dem 16. Jahrhundert in die Weite des Pazifik vorgewagt, doch erst die systematische Erforschung der ozeanischen Inselwelt im 18. Jahrhundert und die im Gefolge veröffentlichten Reiseberichte der Wallis, Bougainville, Cook, Forster, Laperouse etablierten den Südsee-Mythos, wie er auch in unseren Hirnen noch spukt.

Die gefühlvollen, farbtrunkenen, detailgesättigten Beschreibungen eines Arkadien unter tropischer Sonne, zu denen sich selbst so pragmatische Naturen wie Cook und Bligh hinreißen ließen, lösten in Europa eine unkritisch sentimentale Südsee-Schwärmerei vom „Edlen Wilden“, vom „Irdischen Paradies“ aus, die die Salons der Zeit beherrschte, sich in Philosophie, Malerei und Dichtung niederschlug und bis in unsere Zeit fortgeerbt hat, sei es auch nur in den Palmenstrand-Reklamen von Schnaps- und Zigarettenfirmen, im Aloahe-Gewimmere der Hawaii-Gitarren oder in den Einsame-Insel-Cartoons.

Nicht nur Georg Forster hatte schon im frühen Stadium der Kontaktaufnahme vorausgesehen, daß für die ozeanischen Völker die Begegnung mit den Weißen zukunftsbestimmend sein würde, wenn der pazifische Raum erst einmal in politische Einflußsphären aufgeteilt sein und die koloniale Ausbeutung beginnen würde.

Bereits Bougainville sprach unverblümt aus, worum es bei der Eroberung des Pazifik ging: „Alle Reichtümer der Erde gehören Europa, das die Wissenschaften zum Souverän der anderen Weltteile gemacht haben; gehen wir daran, die Ernte einzubringen! Das Südmeer wird eine unerschöpfliche Quelle für den Export französischer Produkte sein, zum Nutzen der zahllosen Völker, die dort wohnen und die, in der Unwissenheit, in der sie leben, unbegrenzt aufnehmen werden.“

Deutlicher kann man es nicht sagen. Sicher hatte er bei seinem Appell an den unternehmerischen Wagemut daran zuallerletzt gedacht - doch die ersten europäischen Exportgüter nachhaltigster Wirkung hießen: Krankheit, Elend, Tod.

aß die Bewohner der Südseeinseln keineswegs dem Klischee vom Wilden entsprachen, hatten mit Erstaunen schon ihre Entdecker festgestellt. Ausführlich beschrieben sie den komplizierten Aufbau des Gesellschaftsgefüges ihrer Gastgeber, zumal auf Tahiti. Sie waren beeindruckt von einer hochentwickelten Religion, die sie nur zum geringsten Teil verstanden. Sie ließen sich begeistern von der ästhetischen, ins alltägliche Leben eingebundenen Kultur, von der Vielfalt der Lieder, Tänze, Spiele und Riten; von der durchformten Schönheit der Gebrauchsgegenstände, Kostüme, Prunkboote, Waffen. - Doch dieser offene Blick verlor sich rasch. Die Nachkommen der Entdecker waren, wie Bougainville prognostiziert hatte, am Profit interessiert und an wenig mehr.

Nach den Entdeckern kamen die Missionare. Es kamen die Kaufleute, die Schutztruppen und die Kolonialbeamten. Es kamen die Pflanzer, die Sandelholzfäller, die Trepangfischer und die Walfänger. Es kamen die Phosphatbergbauer, die Kunsträuber und die Ethnologen. Es kamen Glücksritter, Verbannte, Gestrandete, Beachcomber und Touristen aus aller Herren Länder.

Die westliche Zivilisation fiel über die Inseln her. Sie zerstörte gewachsene Gesellschaftsstrukturen, vernichtete uralte Kulturen, mischte willkürlich Nationalitäten und nivellierte regionale Eigenständigkeiten.

Trotz allem, der Mythos vom irdischen Paradies, vom glücklich-einfachen Leben auf den Inseln im Licht, erwies sich als resistent über die Zeiten. Prominentestes Opfer: der Maler Paul Gauguin. Als er beschlossen hatte der westlichen Zivilisation den Rücken zu kehren und auf Tahiti den radikalen Neuanfang zu wagen, schrieb er (und glaubte, was er da schrieb): „Die Eingeborenen, die glücklichen Bewohner der unbekannten Paradiese Ozeaniens, leben nur den Freuden und Wonnen des Daseins.“

Doch schon in den ersten Tagen nach seiner Ankunft auf Tahiti im Jahr 1891 notiert der Weltflüchtling desillusioniert: „Das war ja Europa - jenes Europa, von dem ich loszukommen geglaubt hatte -, dazu unter den erschwerenden Aspekten des kolonialen Snobismus und einer kindischen, bis zur Karikatur grotesken Nachahmung.“

Und doch sind es gerade Gauguins geheimnisvoll pastorale Bilder aus Tahiti und Hiva Oa, die den Mythos Südsee am eindrücklichsten aufgefrischt und bis in unsere Tage fortgeschrieben haben.

1913, nur zehn Jahre nach Gauguins Tod, schreibt Emil Nolde, auch er ausgezogen, ein Paradies fernab der Welt zu finden, als heute noch mehr denn damals gültiges Resümee seiner Reise zu den Inseln des Pazifik: „Wenn, von den farbigen Eingeborenen aus gesehen, eine Kolonialgeschichte einmal geschrieben wird, dann dürfen wir Europäer uns verschämt in Höhlen verkriechen. - Sicher ist eines: Wir weißen Europäer sind das Unheil der farbigen Naturvölker, und die Japaner folgen getreulich unseren Spuren. Amerika hat seinen Teil schon längst vollbracht.“