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Dem Herrn des Klumpfußes auf der Spur

Die Ausgangslage vor den Viertelfinals: Bericht aus dem argentinischen Trainingsquartier, vervollständigt durch Dossiers diverser Spione  ■  Aus Alcatraz II Herr Thömmes

Wo ist der Klumpfuß? Weit und breit kein Klumpfuß zu sehen. Wahrscheinlich versteckt er sich wieder mal zwischen all den aufgeregten Leuten da drüben. Also nichts wie hin.

„Klumpfuß?“ Kein Durchkommen. Der Reporter muß sich, um seinen Auftrag zu erfüllen, auf den Boden legen und wie bei der Ausbildung der Fallschirmspringer durch einen dichten Dschungel von Kollegenbeinen robben. Und jetzt läßt sich auch die Frage: „Wo ist der Klumpfuß?“ endlich beantworten: Er steckt in einem weißen Socken mit blauem Kringel.

Gut 160 Zentimeter weiter oben sagt der Eigentümer vom Klumpfuß pikiert: „Muchachos, was ist das für eine Art, ich komm‘ doch auch nicht einfach zu euch nach Hause und frag‘ euch irgendwelche Sachen“, womit er eigentlich recht hat, aber auf solche Kleinigkeiten kann im Moment keiner Rücksicht nehmen. Schließlich tun hier alle nur ihren Job.

Wir zum Beispiel sind vom Pressezentrum beim römischen Olympiastadion genau 56 Kilometer durch völlig verstopfte Straßen nach Trigoria gefahren, um das Ausmaß des Klumps zu erkunden und darüber zu berichten. Der Pulk von 60 Kameras, Mikrofonen, Rekordern und Kugelschreibern löst sich dann doch und gestattet den beiden weißen Socken, die paar Schritte über den Rasen vom Trainingsplatz zum Haus zu machen. Dort wird gleich die Audienz stattfinden, doch der Herr des Klumps muß dazu erst eine kleine Mauer erklimmen, um sich zu setzen. Er hinkt dabei, diese nicht gerade schwere körperliche Übung bereitet ihm sichtlich Schwierigkeiten, obwohl nur (handvermessene) 63 Zentimeter zu überwinden sind. Uff.

Feuer in der Stimme

Radiohörer in Kolumbien und Argentinien können diese Szene live miterleben. Es sei gerade achtzehn Uhr soundsoviel und ein schöner Sonnentag, erzählt ein Reporter mit Feuer in der Stimme, und gleich würde Diego Armando Maradona vor der internationalen Presse Rede und Antwort stehen. Also, Diego, wie geht es dir, was macht der Fuß, wirst du weiter so gefoult wie bisher, was hältst du von Stojkovic, sind die Jugoslawen besser als Brasilien?

Zuerst einmal wird nun der Klumpfuß von genau 19 Fernsehkameras gefilmt und von gut doppelt so vielen Fotografen im Bild festgehalten; so manches berufliche Drama nimmt seinen Lauf. Was nutzt das Bild des Klumps von hinten, weshalb einige schreien „Maradona, Maradona“, auf daß der Klump sich einmal kurz wende, was der aber nicht tut, sondern behauptet, wir alle seien „rechte Pfannkuchen“, nach dem schlechten Spiel gegen Kamerun habe sich kaum einer hier blicken lassen, aber wenn wir es schon wissen wollten: Der Klumpfuß sei keiner mehr, die Schwellung weg. Ist das keine Nachricht?!

Und dann sprudeln die Worte, deren Sinn sich kurz so zusammenfassen läßt: Alles bestens, die Chancen im Viertelfinale stehen pari-pari, Gott weiß Bescheid, was er zu tun hat, der sei bereits mehrfach angebetet worden. Während nun die brasilianischen Kollegen völlig nebensächliche Fragen zum Grund des eigenen Ausscheidens stellen, ist Zeit zu ergründen, warum der argentinische Mannschaftsarzt Raul Madero dieses Domizil Alcatraz II nennt.

Ein eher unscheinbarer Flachbau steht da, zwei Rasenplätze drumherum, begrenzt wird das Grundstück von einer weißen Mauer aus Betonplatten, die man als Berliner von irgendwoher zu kennen glaubt. Dazu jede Menge Zaun, der Eingang ist von bewaffneter Miliz bewacht, alle 20 Meter steht eine Laterne, um nachts Autogrammjäger besser erschießen zu können. Hierhin zieht sich Rudi Völlers Verein AS Rom regelmäßig ins Trainingslager zurück, und es ist erfreulich zu wissen, daß junge Millionäre die Hälfte ihres Daseins in einem Knast verbringen müssen. Könnte auch sein, daß Erich Honeckers Stararchitekt aus Wandlitz hier seine kreativen Spuren hinterlassen hat, aber das war nicht herauszubekommen.

Schluß jetzt! Die unvorsichtigen Argentinier lassen Diego auf eigenen Füßen ins Haus gehen, beinahe wäre er über ein Stativ gestolpert; nicht auszudenken. Hier und da stehen noch andere Nationalspieler herum, aber die sind mehr für die kleinen Lokalsender, die Maradona nicht exklusiv kriegen können. Für Trainer Carlos Bilardo interessieren sich vier TV-Kameras, um nichts in der Welt will er uns seine Taktik verraten, dafür hält der gelehrte Mediziner einen längeren und grundsätzlichen Vortrag über das Prinzip des Liberos. Es hat keinen Sinn mehr, zurück ins Pressezentrum nach Rom.

Hier laufen sowieso alle Fäden zusammen. Tausende von Spionen (offiziell sind 7.000 Journalisten akkreditiert) geben hierher sachkundige Berichte durch wie den obigen aus Alcatraz II, weshalb auch über den Stand der anderen Teilnehmer im Viertelfinale erschöpfend Auskunft gegeben werden kann.

Argentiniens Kontrahent wird spielen wie immer, Stojkovic muß zeigen, ob er die 15 Millionen Mark wert ist, die Olympique Marseille für ihn bezahlt hat, aber alles wird vom Schatten abhängen. Warum? Weil der „Maradona des Ostens“ (diesen Titel teilt er mit dem Rumänen Hagi) ein Schlaffi ist und sich gern dort herumtreibt, wo das Tribünendach die Sonne nicht hinläßt, um dann, wie gegen Spanien, plötzlich im grellen Licht aufzutauchen und den Ball ins Netz zu treten.

Geniale Ausstrahlung

Für die Deutschen soll das Karl-Heinz Riedle machen, weil Völlers Rudi ein Spiel gesperrt ist, dazu kommt Bein für Reuter, und die Zeichen stehen auf Sieg. Warum? Weil Franz Beckenbauer „durch seine geniale Ausstrahlung“ die Jungs inspiriert, sagt Jürgen Werner, der Spielausschußvorsitzende des DFB. Außerdem hat die BRD mit dem Abwehrduo Kohler/Buchwald noch nie verloren, und die Tschechoslowaken sind von den Verlockungen des Westens verunsichert. Mag sein, wie Trainer Josef Venglos sagt, daß Jan Kocian von St. Pauli „eine Institution ist, eine Persönlichkeit“. Aber der fünffache Torschütze Skuhravy hat vorgestern seine erste Probefahrt mit einem Rolls Royce gemacht, und Ivo Knoflicek soll bereits zuviele Schuldscheine unters Volk gebracht haben. Kann das gutgehn?

Alles offen bei Kamerun-England. Die Briten wollen weiter Kurzpaß spielen, und Kamerun muß ein knappes Ergebnis so lange halten, bis der 38jährige Milla in den letzten Minuten die Sache perfekt machen kann, was sich für die Zuschauer allein wegen seines Hüftelns an der Eckstange lohnt. Hinreichend dementiert von Torhüter N'kono ist mittlerweile das Gerücht, die Kameruner Kasse sei leer und die Motivation demnach auf das Maß einer Lira gesunken. Beeindruckend die positive Foulbilanz Kameruns (115:80), die sich niederschlägt in 12 gelben Karten sowie 2 roten. Harte Fakten von harten Kickern!

Inzwischen hat Jack Charlton sich mit seiner Mannschaft Videos von den italienischen Spielen reingezogen und damit die Frage von Mittelfeldspieler Cascarino beantwortet: „Wer ist dieser Schillaci?“ Eine Zusatzinformation: Seit gestern ist Salvatore Schillaci der Liebling Italiens (12,1 Prozent) vor Libero Baresi (11,9%). Der Liebling von Rockdame Madonna, die auf den Namen Luisa Veronica Ciccone hört, ist Torhüter Walter Zenga, den sie „sexy“ findet; zudem haben es ihr die grünen Augen von Roberto Baggio angetan. Ob die beiden das nervlich verkraften?

Immerhin hat Zenga seit 823 Minuten kein Tor eingefangen. Und die Iren haben gerade mal zwei zustande gebracht in vier Spielen, weshalb die Katholiken von der Insel den geographischen Standortvorteil der Italiener zum Vatikan mit einer Audienz bei Wojtyla aufzufangen suchten, die der Oberhirte mit einer Beichte auflockerte: „Auch ich war mal Torhüter.“ Worauf ihm Pat Bonner erzählt, was beim Elfmeter zu beachten ist: „Man muß den Schützen genau studieren seine Bewegungen, sein Gesicht, seine Augen (Oh, Madonna!).“

Völlig unklar, wen Bonner wird studieren können. Vialli ist wieder fit und Donadoni auch, alle wollen spielen, aber Azeglio Vicini verrät nichts. Sowieso hat der Trainer bereits 17 verschiedene Spieler auflaufen lassen, für italienische Verhältnisse eine irre Experimentierfreudigkeit, und jedesmal haben die Neuen ein Tor geschossen. Der Mann hat Gespür.

Was Jack Charlton schnuppe ist, weil die Iren schon mehr erreicht haben als erwartet, „aber ihr“, piekst er den Italienern ins mentale Gleichgewicht, „ihr riskiert ein Drama“. Gelassen wie der langhalsige Jack können wir selbst die Spiele angehn. Nachdem der redaktionelle Geheimtip Uruguay die Segel gestrichen hat, ist das Wettgeld futsch. Vom Imageverlust einmal abgesehen: Psychologisch ist das eine prima Ausgangslage!

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