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Alles rennet, rettet, kauft

■ Ost-Berlin vor der Stunde Null: Kaufrausch mit der letzten DDR-Mark, Abfallberge wegen Müllmännerstreiks, flaschenbierfreie Zonen, und der Alex wird zum Bazar

Links ragt stinkender Abfall aus ungeleerten Containern, rechts hocken streikende Müllwerker zufrieden auf volkseigenen Bänken. Kurz vor zehn warten Hunderte am Haupteingang des Kaufhauses „Centrum“ dicht an dicht gedrängt darauf, daß das einstige sozialistische Einkaufsparadies endlich die Pforten zum letzten Alu-Chip -Gefecht öffnet. Berlin, Alexanderplatz, 38 Stunden vor dem D(M)-Day: Die Augen auf, die Handtasche fest geschlossen.

Ein paar Meter weiter flüstern Dutzende von Rumänen Passanten den Tageskurs zu („Tauschen? Eins zu zwei!“). Wer sein Konto schon aufgefüllt hat, dem werden Cognac oder Zigaretten angeboten, der bekommt einen Walkman unter die Nase gehalten oder wird von Roma-Kindern mit mitleiderregendem Blick um Geld angebettelt. Der einstmals verschlafene Alexanderplatz: ein riesiger Bazar. Den Dreck, der überall herumliegt, weil die Müllarbeiter für West -Tarife streiken, schreiben die Ostberliner den „Zigeunern“ zu. „Nu‘ guck sich einer diese Kriminellen an!“ empört sich Otto B. (67) und klagt einer unbekannten Rentnerin sein Leid: die Kleinen würde man immer bescheißen, nu‘ würden alle arbeitslos, und bei Erich hätt's das nich‘ gegeben. Die neue Regierung, so rät der Pensionär, solle man, in einem Sack verschnürt, schnellstmöglich in der Spree versenken. „Nu‘, dann wird's werden auch nich‘ besser!“ erwidert seine Gesprächspartnerin, die dem Dialekt nach aus den „Ostgebieten“ stammt. Dann geht plötzlich ein Ruck durch die Menge, und die wunderbare Welt des VEB-Designs öffnet zum letzten Mal ihre Pforten.

Die Masse kauft, was ihr in den halbleeren Regalen unter die Finger kommt: Reibeisen des VEB Cromeria, Plätzchenformer aus Plaste, Rückschlagventile aus Ungarn, Tischtuch-Halteklammern aus Ruhla. Alles muß raus, alles zum halben Preis: Im Erdgeschoß streiten sich zwei Damen um die letzten cremefarbenen Dessous, im ersten Stock sucht eine gestreßte Mutter vergeblich die Spielwarenabteilung. Dort ruft ein Kind nach Pittiplatsch. Doch nach der Schallplatte des heimlichen Stars des DDR-Fernsehens, der jahrzehntelang mit Schnatterinchen und Herrn Fuchs im Abendgruß des Deutschen Fernsehfunks Kleinkindern Sand in die Augen streute, sucht die Mutter des plärrenden Kleinen heute vergeblich. Die Phonoabteilung macht schon Inventur, am Montag öffnet sie wieder die Kasse - auch Pittiplatsch wird umgerubelt.

Was auch noch am Montag vor den kritischen Augen der Verbraucher bestehen kann, wird in den Lagern gehortet. Aus diesem Grunde konnte man Ost-Berlin schon am Donnerstag zur flaschenbierfreien Zone erklären - sehr zum Ärger vieler WM -Fans, die sich am Sonntag abend eine Pulle Pilsator gönnen wollten. Auch Frank D., der am 1. Juli 46 Jahre wird, sitzt an seinem Ehrentage nun auf dem Trockenen: Nur noch Club -Cola habe er bekommen, und das sieben mal teurere West -Bier, zumal noch in Dosen verpackt, könne er sich nicht leisten. Wie jeder vernünftige DDR-Bürger hat er nur noch Kleingeld in der Tasche, die Scheine liegen zum Umtausch auf der Bank.

Am Bücherstand preist ein Verkäufer ein Bilderbuch über Kosmonautenreisen an, in der Haushaltswarenabteilung werden die letzten Kirschsteinentferner verramscht. Ein Angestellter schleppt drei Kilo Schreibpapier zur Kasse, eine Hausfrau sichert sich Fässer schwarzer Tinte. Schon nach einer Viertelstunde gleicht das „Centrum“ einem Hexenkessel, alles rennet, rettet, flüchtet. Kinder schreien, die Verkäuferinnen kommen mit dem Kassieren nicht nach, blicken deprimiert in Richtung Kundenschlange.

Nur Stefan S. (26) steht wie ein ruhender Pol in der tosenden Brandung. Sorgfältig prüft er in der Schreibwarenabteilung die Zacken von Briefmarken aus sozialistischen Bruderländern. Sechs Kakteenmotive aus der Mongolischen Volksrepublik, fünf Giftpilze aus Ungarn, sieben Orchideen aus Nicaragua. Zusammengestellt wurden die Sätze vom VEB Philatelie Wermsdorf. Der Zusammenbruch des sozialistischen Lagers offenbart sich hier en miniature: Schon ab nächsten Montag verkauft die DDR-Post keine eigenen Briefmarken mehr, die Deutsche Bundespost hat schon Ersatz geliefert. Die Marken der RGW-Staaten hätte er immer viel schöner gefunden, meint der Westberliner Stefan S. mit melancholischem Blick. In der real existierenden Philatelie war die Welt noch in Ordnung: Voller Farbenpracht und in verschwenderischen Größen gingen die Marken des RGW-Blocks um den Erdball, um von der Erfolgsgeschichte des Sozialismus zu künden. Nun werden sie nicht mehr gedruckt. Immerhin: „Wenn ein Land sich auflöst, steigen seine Briefmarken im Wert“, tröstet sich der Sammler und schreitet zur Kasse.

Claus Christian Malzahn

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