Socke legt Mutter frei

■ Xavier Tomeos „Mütter und Söhne“ an der Schaubühne

Ich bin ganz offensichtlich nach der Sintflut geboren - und bin folglich nicht älter als Noahs Arche und seine folgsame Taube - aber als ich auf diese Welt kam, existierten die Mütter bereits. Am Anfang aller Dinge waren sie bereits da. Was hätte alles Nachfolgende tun können, außer zu existieren?“

Damit wäre das vorsintflutliche Thema eines Theaterabends benannt: Mütter und Söhne. Was ursprünglich ein Roman des spanischen Autors Xavier Tomeos ist, wurde von Felix Prader als deutschsprachige Erstaufführung für die Schaubühne eingerichtet und zu einer Groteske stilisiert, die eben die Nichtausrottung von Müttern bei der Sintflut beklagt. Will man dem Autor glauben, haben die Mütter als biblisches Urvieh Tohuwabohu, zu dessen Ertränkung die göttlichen Wassermassen ja ausgesandt wurden, als Schlangen und Drachen, als vielbrüstige und söhneerdrückende Monster überlebt und werden als solche, nach dem verständnissinnigen Raunen bei dieser Schaubühnenpremiere zu urteilen, offensichtlich nicht nur von einer spanischsprachigen Männerwelt bis heute perhorresziert.

„Sie können nichts zun, außer existieren“: stellvertretend für die Hälfte der Menschheit führen Juan D. alias Udo Samel und H.J. Krugger alias Gerd Wameling dieses Verdammtsein zur bloßen Existenz auf der Bühne vor. Der eine, ein wabberndes Gelatineprodukt, zu Zusammenhaltszwecken in eine Wursthaut gestopft und am Hals ferngesteuert, sucht, um sich von der mütterlichen Bevormundung zu befreien, Arbeit: er bewirbt sich um eine Nachtwächterstelle in einer Bank. Der andere, Personalchef dieser Bank, subaltern-autoritär und kettenrauchend, geht wie Groucho Marx sein Hoheitsrevier ab: er horcht den Bewerber aus, scheucht ihn von Sessel zu Sessel und empört sich, daß einer am Ende des 20. Jahrhunderts mit dreißig Jahren noch nie gearbeitet hat.

Beim Thema Spielzeugeisenbahn bricht indes das Machtgefälle zusammen: was eine Art Rorschachtest am Gegenüber werden sollte, enthüllt nun wässrige Farbmischungen beim Fragestellenden selbst. Gemeinsam lassen sie im Geiste Spielzeugeisenbahnen fahren, reden von Plüschteddybären und Affen, die man aufziehen kann. Der Personalchef holt sich indes in die Gegenwart zurück und gibt sich inquisitorisch: aus der Art des Mutter-Sohn-Beziehungsverlaufs zwischen Bewerbungsschreiben und Vorstellungsgespräch will er auf die Tauglichkeit des Bewerbers schließen: Juan seinerseits gibt sich beschlagen, versucht, das Publikum zu Mitverschworenen zu machen, Kruggers Taktik zu durchschauen und die Antworten zu geben, von denen er denkt, daß Krugger sie hören will. In diesem wechselseitigen Umschnupperungsverfahren wird unter der Anzugshose sichtbar, daß der eine so geschmacklose rote Socken wie der andere trägt. Als wären sie Zeichen der nichtgelösten Nabelschnur, tun sie die Muttersöhnchenschaft kund: Krugger hat seine Mutter keineswegs verarbeitet, er hat sie nur besser abgebunkert als Juan: einer plötzlichen Aufwallung folgend, kriecht er unter den Schreibtisch, taucht durch eine Falltür ab, man hört seine Schritte in einem Keller, er kommt mit einem geheimgehaltenen Schatz zurück: dem handgeschriebenen Kochbuch seiner Mutter, in dem es mindestens 24 Steinbuttrezepte gibt.

Damit wird das Vorstellungsgespräch zu einem Wechselgesang über Mütter, die einen vor die Alternative zwischen Tatenlosigkeit und Mord an ihnen stellen, letzteres für den Fall, daß man sie in guter Erinnerung behalten will. Der Personalchef konnte nämlich nur einer werden, weil er rechtzeitig, achtjährig, Kichererbsen auf der Treppe ausgestreut hat. Ödipussi dagegen muß zwanghaft Iah machen, wenn ihn seine Mutter einen Esel nennt. Er berichtet von seinen Protesten gegen Makkaroni mit der abgeschmackten Tomatensoße oder gegen die mütterliche Xenophobie: er habe ihr gegenüber die Größe der französischen Revolution betont, die ja auch das Werk von Ausländern gewesen sei. Einen Robespierre könne er auf keinen Fall gebrauchen, wird ihm daraufhin von Krugger gesagt. Was für ein Robespierre denn, antwortet Juan, einen, der seiner Mutter dreißig Jahre lang beim Stricken zugesehen hat?

Es ist kein Klagegesang. Es ist eine wunderbar ausgefeilte Groteske über die nach innen gedrehten Schuhspitzen, über die Zuschnürung am Hals, über den Zwang zum Sandmännchenrauspopeln - die kalte Bühne der „laizistischen Kathedrale“ trägt das ihrige dazu bei: die Lederpolster laden zu steifen Sitzhaltungen, die Azalee zum Durch-die -Blume-sprechen, der hüpfende Holzfrosch zum Fangen und zu einer eingeschobenen Zwanglosigkeit ein; der Schreibtisch zum gezierten Platznehmen auf seinen Ecken und zum freien Beingebaumel für denjenigen, für den der Boden immer unerreichbar bleiben wird. Durch Licht- und Musikdramaturgie wird den Helden gelegentlich Tatortdignität verliehen, Gerd Wameling wäre vielleicht als Kommissar gar nicht so schlecht.

Michaela Ott