Einheit als Radlermaß aller Dinge

■ Die Deutschen Bahnmeisterschaften präsentierten trotz des Dreifachsieges von Markus Nagel die Schwächen des bundesdeutschen Radsports / Nach der Vereinigung beider deutscher Verbände lockt der Durchbruch zur absoluten Weltspitze

Schöneberg. Unter einer schwülen Hitzeglocke trugen die besten BRD-RadfahrerInnen am Wochenende ihre Meisterschaften aus. In futuristisch anmutender Rennausstattung preschten sie über das altmodische Holzparkett der Radrennbahn Schöneberg; ein Gegensatz, der trefflicher nicht hätte sein können. Denn die großen Zeiten des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR) in dieser einstigen Königsdisziplin liegen weit zurück. Unter der Ägide von Bundestrainer Gustav Kilian heimsten vor allem das Viererteam in der Mannschaftsverfolgung oder Einzelkämpfer wie der spätere Profi Gregor Braun internationale Titel und Medaillen ein. Das war in den 60er und 70er Jahren.

In Schöneberg jedoch wurde jeder Sieg mit Blick auf die WM im August mit einem dicken Fragezeichen versehen. Als Gaby Dorausch vom RV Berlin das 500-Meter-Zeitfahren gewann, fragten sich die wenigen Zuschauer sogleich, ob die Nerven gegen eine Klassesprinterin wie Annette Neumann aus der DDR halten würden. Ähnlichen Zweifeln wurde Petra Raßner nach ihrem ersten Platz über 1.000 Meter ausgesetzt. Der Neuköllnerin hielt das Auditorium zugute, daß sie einst für die DDR fuhr und folglich mehrere intakte Nervenkostüme im Schrank haben müsse. Die allerbesten Nerven bewies jedoch der 23jährige Markus Nagel aus Oberhausen: Erst gewann er das Zeitfahren über 1.000 Meter, anschließend den Sprint und weil's so schön war mit seinem Partner Uwe Buchtmann das Tandemfahren. Drei Siege - ein neuer Rekord. Doch selbst dieser Erfolg ändert wenig: „In Hinsicht auf die WM“, kommentierte Wolfgang Mussehl, Bahnfachwart im Berliner Radsport-Verband, „ist unsere Lage nicht gerade rosig.“ Weder wirtschaftlich noch sportlich. Selten kann man noch Meisterschaften ohne Bandenwerbung erleben. „Die Sponsoren wollen ins Fernsehen, aber das schaffen wir nicht“, mußte sogar BDR-Zeugwart, Wolfgang Schmidt, erkennen. „Uns fehlen eben das Flair und ein paar Prominente.“

Daß es durchaus Interessenten gibt, verspüren die BDR -Verantwortlichen am zukünftig eigenen Leib. „Die potenten Sponsoren investieren zur Zeit massiv in die DDR-Mannschaft. Die rüsten sie komplett neu aus“, wußte Mussehl. Trotz Abschaffung der Planwirtschaft könne der DDR-Verband nämlich immer noch dafür garantieren, international erfolgereiche Athleten hervorzubringen. Die Nachwuchsarbeit drüben sei straffer organisiert, „während bei uns gerade im Schüler und Jugendbereich weit mehr getan werden müßte“, so Mussehl.

Unterdessen bretterte draußen gerade das Männerquartett aus Stuttgart zum überlegenen Sieg im 4.000-Meter -Verfolgungsfahren. „Das waren noch Zeiten damals“, dachte Mussehl sicht- und spürbar. Aber die Ära Kilian bringt niemand zurück - außer vielleicht die BDR-Stars in spe, die aus der DDR kommen. Die Weltmeisterschaft wird die letzte mit zwei deutschen Teams sein. Anschließend zählt der Einheitsverband dank des überragenden DDR-FahrerInnenlagers und einiger BRD-Talente zur absoluten Weltklasse. „Das wird natürlich hart für unsere BDR-Fahrer, aber insgesamt können wir davon nur profitieren“, glaubt Mussehl.

Am sich abzeichnenden Radboom dürfte auch Berlin partizipieren, wo sich zu den starken Vereinen West-Berlins die schier übermächtigen Ost-Clubs TSC und 1. SC (früher SC Dynamo) gesellen werden. Wie man am Rande der Schöneberger Veranstaltung hören konnte, gilt die Stadt bereits als sicherer Standort für einen Rad-Olympiastützpunkt.

Jürgen Schulz

BRD-Bahn-MeisterInnen: Amateure, Männer: Zeitfahren 1.000 m: Markus Nagel 1:06,32 Min.; Sprint: Markus Nagel; Einerverfolgung: Michael Glöckner 4:39,65; Mannschafts -Verf.: SRG Stuttgart 4:21,56; Punktefahren: Hans-Joachim Pohl.

Frauen: Sprint: Gabriele Dorausch Zeitfahren 500 m: Gabriele Dorausch 37,89 Sek.; Einerverfolgung: Petra Roßner 3:58,19 Min.; Punktefahren: Petra Roßner.