„Es gibt keinen Pakt zwischen den Sandinisten und Violeta Chamorro“

■ Ein Interview mit dem führenden Sandinisten Carlos Carrion, der bis vor zwei Monaten Bürgermeister von Managua war

INTERVIEW

taz: Vier Monate ist der Wahlschock jetzt her. Einige Tage bevor Sie nach Europa geflogen sind, fand die erste „Nationale Versammlung“ der FSLN seit der Niederlage statt. Wie soll denn das „sandinistische Projekt“ in Zukunft aussehen?

Carrion: Es wird eine innere Demokratisierung der FSLN auf allen Ebenen und in allen Gremien geben. Und wir haben den geplanten großen Parteikongreß der FSLN - den ersten in ihrer Geschichte übrigens - auf Februar 1991 vorverlegt; dort soll das sandinistische Programm für die Zukunft neu definiert werden - aufgrund einer umfassenden Analyse nicht nur der Wahlniederlage, sondern der Erfahrungen der gesamten zehn Jahre und der veränderten Situation in der Welt.

Demokratisierung der FSLN - heißt das, daß auch die neun Comandantes der „Nationalen Leitung“, die seit dem Guerillakampf gegen Somoza in unveränderter Besetzung die Frente Sandinista geführt haben, zur Disposition stehen?

Ja. Auf eben diesem Parteikongreß werden auch die Mitglieder der „Nationalen Leitung“ von der Basis gewählt werden. Und schon vorher werden die lokalen und regionalen FSLN-Führer von unten gewählt.

Die reibungslose Übergabe der Regierung an die siegreiche Rechte, Daniel Ortegas fotogene Umarmung mit Dona Violeta, das vorläufige Verbleiben Humberto Ortegas an der Spitze der Armee - all dies hat viele Beobachter dazu geführt von einer „Cohabitation“, einer Art geteilter Regierungsverantwortung von FSLN und UNO zu reden.

Über die „konstruktive Opposition“ oder eine „Cohabitation“ ist in der FSLN viel gestritten worden. Die einen haben jeden, der die Regierung von Violeta nicht sofort stürzen wollte, als „Paktierer“ oder - um das derzeit modische Schimpfwort zu gebrauchen - als „Sozialdemokraten“ verdächtigt; und die anderen haben alle, die einen unnachgiebigen Oppositionskampf gegen diese Regierung forderten, als verantwortungslose Fanatiker beschimpft. Die Diskussion und auch das Ergebnis der „Nationalen Versammlung“ haben jedoch gezeigt, daß die Positionen in Wirklichkeit nicht so weit auseinander liegen. Es gibt keine „Cohabitation“ mit Violeta Chamorro, keinen „Pakt“. Worum es tatsächlich geht, ist an der Seite des Volkes eine unnachgiebige Oppositionspolitik zu machen, die das in Sandinisten und UNO-Wähler gespaltene Volk wieder eint. Das Ziel ist, dem Volk zu zeigen, daß diese Regierung sein Feind ist und daß die FSLN auf der Seite des Volkes steht.

In den letzten Wochen hat es aber Stimmen - auch aus dem Kreis der neun „Comandantes“ der FSLN - gegeben, die ein Bündnis mit den moderaten Teilen des bürgerlichen Lagers um Violeta Chamorro durchaus als mittelfristige Perspektive für die Sandinisten sahen.

Ja, es gibt Leute in der Frente, die wirklich an eine moderne Bourgeoisie glauben. Aber die Mehrheit - und so war auch der Konsens auf der Nationalversammlung - sieht dies so, daß die „Moderaten“ um Violeta, genau wie die „Hardliner“ die Vernichtung der FSLN, die Eliminierung der Volksbewegung wollen. Der Unterschied liegt nur im Wie und Wann. Die Leute um die Präsidentin sind stärker an Ruhe und Stabilität interessiert. Den Leuten in Miami ist das egal, die wollen wieder zu einer Situation zurück, die genauso ist wie vor 1979 unter Somoza.

Die FSLN hat jedoch wiederholt erklärt, sie wolle die neue Regierung nicht destabilisieren. Wird dies die FSLN aber nicht - zum Beispiel bei Streiks oder Protesten - notwendig in Konflikt mit den Forderungen des Volkes bringen?

Wir haben gesagt: Unser Ziel ist nicht die sofortige Destabilisierung dieser Regierung mit Mitteln des Zwangs. Wir wollen keine Krise provozieren. Das bedeutet jedoch nicht, daß wir bei dem Kampf der Massen in irgendeiner Weise zurückstecken werden. Wenn die Regierung eine destabilisierende Politik macht, wird sich das Land auch destabilisieren. Für uns ist dabei jedoch fundamental, daß dies nicht als Ergebnis einer Initiative der FSLN erscheint, sondern als Konsequenz der von der Regierung ergriffenen Maßnahmen.

Wie findet sich denn eine solche „unnachgiebige Opposition an der Seite des Volkes“ mit einer Rechtsregierung ab, die für die nächsten sechs Jahre gewählt ist?

Wenn wir diese Regierung jetzt stürzen wollten, bräuchten wir dazu nur sechs Polizeipatrouillen, um die Minister zu verhaften. Aber das wäre natürlich überhaupt keine Lösung. Uns geht es im Moment vielmehr darum, die Unterstützung des Volkes zurückzugewinnen. Wenn es uns gelingt, die Kräfteverhältnisse zu ändern, dann öffnen sich für uns alle Optionen, alle Alternativen.

Aber: 1990 Violeta zu stürzen ist nicht das gleiche wie 1979 Somoza zu stürzen! Violeta hat internationale Unterstützung, sie ist über Wahlen an die Regierung gekommen, sie hat Prestige etc. Erst muß die Regierung ihr Prestige verlieren, muß sie wie eine Neuausgabe des Somoza -Regimes, als Monster und Diktatur erscheinen, bevor der Weg des Aufstands, der Gewalt legitimiert ist. Aber es gibt auch verfassungsgemäße Wege, die sich im Fall einer nationalen Krise eröffnen können. Die Frente Sandinista wird Regierungsverantwortung nur übernehmen als Konsequenz großer sozialer Unruhen, wenn die FSLN auf eine Unterstützung der Massen zählen und Bedingungen für ihre Regierungsteilnahme diktieren kann.

Der Horizont für die Rückgewinnung der Regierung ist also nicht notwendigerweise nur der Wahltermin 1996?

So ist es. Meine persönliche Vorstellung ist, daß in diesen sechs Jahren irgendwann eine schwere soziale Krise und der politische Zusammenbruch der Regierung erfolgen muß, so daß es zu einer nationalen politischen Übereinkunft kommen wird, die auch ein Vorziehen des Wahltermins ermöglicht.

Eine Frage zur FSLN selbst: Die sandinistische Befreiungsfront ist ja als bewaffnete Guerilla-Avantgarde entstanden und war in den vergangenen zehn Jahren eine Kaderpartei mit nur rund 2.000 Mitgliedern. Verwandelt sich mit der internen Demokratisierung die FSLN auch in eine Massenpartei, die für alle offen ist?

Nach dem Triumph über die Somoza-Diktatur wurde die Partei nicht so sehr organisiert, um das Volk politisch zu überzeugen, sondern vielmehr um ein „schon überzeugtes“ Volk möglichst gut für die Aufgaben der Revolution zu mobilisieren. Die Voraussetzungen sind heute ganz andere. Nach den Wahlen hat sich der bezahlte Apparat der Partei beträchtlich reduziert, ungefähr auf ein Zehntel... Viele Companeros sind in die Massenorganisationen zurückgegangen, die sehr gestärkt wurden. Zur Zeit haben wir die Türen für alle geöffnet, die in die FSLN wollen. Denn wer in diesem Moment der Frente Sandinista beitritt, ist mit Sicherheit kein Opportunist, der Vorteile oder Privilegien sucht! Im Gegenteil, er riskiert viel.

Die FSLN verändert sich - und diese Woche reist Daniel Ortega zum Treffen der Sozialistischen Internationale (SI) nach Helsinki. Bislang hat die Frente bei der Internationale der Sozialdemokratie Beobachterstatus. Es wird spekuliert, daß Ortega nun den Antrag der Sandinisten auf Vollmitgliedschaft stellen wird?

Nein. Darüber wird tatsächlich erst der Parteikongreß entscheiden. Ohne eine gründliche Debatte zuvor würde die Basis der Frente Sandinista einen solchen Schritt auch nicht akzeptieren.

Das Problem ist: Vor der Revolution wurde die FSLN - einmal abgesehen von den Solidaritätskomitees - nirgendwo gehört und nirgendwo empfangen. Dahin können wir nicht zurück. Wir müssen auf der Weltbühne eine aktive Rolle spielen, und da ist die Sozialistische Internationale für uns wichtig. Wenn wir dies mit unserem Beobachterstatus tun können wunderbar! Wenn wir dafür Vollmitglied werden müssen, dann ist genau zu sehen, inwieweit dies ideologische oder politische Bedingungen für die FSLN mit sich bringt.

Interview: Bert Hoffmann