Schlesier in Polen - neue Wege oder alte Fronten

■ Trotz deutlicher Wahlerfolge der Organisationen deutscher Schlesier geht der Exodus weiter / Die Vertriebenenverbände werden in Oberschlesien aktiv

Aus Opole Klaus Bachmann

Die kleine Kneipe auf der holprigen Landstraße irgendwo zwischen Dobrodzien (Guttentag) und Strzelce Opolskie (Groß -Strelitz) sieht aus, wie eine jener gewöhnlichen polnischen Bierhöhlen, in denen gelegentlich die Fernfahrer versacken und des morgens die örtlichen Säufer ihren Alkoholpegel auf ein erträgliches Maß bringen, bevor sie den Mühen des Tages entgegenwanken. „R. Urban, Kneipe der vierten Kategorie“ steht auf dem Schild, und so sieht es drinnen auch aus. Und trotzdem haben drei der vier vor dem Haus stehenden Wagen ein westdeutsches Nummernschild, und die Bedienung fragt jeden Ankömmling in akzentfreiem Deutsch, was es sein dürfe. Drinnen gibt es eine Leseecke mit deutschen und polnischen Zeitungen und Zeitschriften. Einheimische und Touristen trinken ihr Bier, mal wird deutsch, mal polnisch geredet, auch unter den Einheimischen.

Noch vor wenigen Jahren wäre eine deutsche Kneipe in Schlesien wohl kaum möglich gewesen, auch wenn viele ältere Schlesier in der Gegend um Opole (Oppeln) besser deutsch als polnisch sprechen und die Deutschsprachigen in manchen Orten sogar die Mehrheit stellen. Vierzig Jahre lang wurden alle Versuche, diese Minderheit zu organisieren, administrativ und mehr oder weniger gewaltsam beendet, meist endeten sie mit der Aushändigung einer Ausreisegenehmigung durch die Geheimpolizei und der Emigration in die Bundesrepublik.

Überraschende Wahlerfolge

Inzwischen macht sich Polens neuer Pluralismus auch in Oberschlesien, bis in die Wojewodschaften Katowice, Opole und Tschenstochau geltend. Zu den diesjährigen Kommunalwahlen sind über 500 Kandidaten der verschiedenen Minderheitenvertretungen angetreten. In manchen Gemeinden waren sie höchst überrascht von ihren gewaltigen Wahlerfolgen.

Egon Pryszcz, Vorsitzender der „Gesellschaftlich -kulturellen Vereinigung der deutschstämmigen Bevölkerung“ in Dobrodzien, einer kleinen 5.000-Seelen-Gemeinde, eine Autostunde hinter Tschenstochau, kommt gerade von einer Sondierungstour zurück. Sein Verein hat bei den Kommunalwahlen in Dobrodzien 19 von 23 Gemeinderatssitzen gewonnen und soll nun den Bürgermeister stellen. „Aber keiner will das machen, die haben alle Angst vor der Verantwortung“, beklagt sich Pryszcz.

Nicht nur er hat dieses Problem - in 36 Gemeinden ziehen insgesamt 380 Gemeinderäte der deutschen Minderheit in die Rathäuser ein. Kaum jemand hat mit diesem Erdrutschsieg gerechnet, auch nicht in Dobrodzien, obwohl sich dort schon seit Wochen die Leute massenweise bei Theresa Pryszcz in der Vereinsbibliothek in die Mitgliederlisten eintragen. Frau Pryszcz bereist die umliegenden Dörfer, sammelt Mitgliedsbeiträge und Anträge ein und führt die Leihbibliothek in Dobrodzien, deren Bücherbestände aus der Bundesrepublik stammen. Ab Mitte Juni wird es in einer der beiden örtlichen Kirchen nun auch eine Messe in deutscher Sprache geben - denn die Deutschen hier, erklärt Frau Pryszcz, sind alle gut katholisch, genau wie die polnische Minderheit von Dobrodzien.

Auf dem Fußboden im Pfarrhaus liegt ein Berg von Arzneimittelpackungen - eine Spende aus der Bundesrepublik. Pfarrer Weindok ist damit beschäftigt, die Medikamente herauszusuchen, deren Verfallsdatum überschritten ist. Die Kirche muß „zusammenführen“ betont er. Er ist besorgt, auch wenn er das nicht offen zugibt, denn der Erdrutschsieg der Deutschstämmigen in Dobrodzien, obwohl absehbar, hat doch wie ein Schock gewirkt. „Es gibt viele ältere Leute hier, die nie richtig polnisch gelernt haben. Aber die Leute haben sich nie in Deutsche und Polen geteilt, sie haben immer nur gesagt, ich bin ein Deutsch-Schlesier, ich bin ein Polnisch -Schlesier. Sie sind Schlesier, und die Schlesier haben Polen immer mit dem Kommunismus gleichgesetzt, so ungerecht das auch ist. Deshalb war die Wahlbeteiligung auch so gering - sie haben sich gesagt, es ändert sich ja doch nichts.“ In seinen Predigten bemüht sich Weindok, einen versöhnlichen Ton anzuschlagen. Und einen Lieblingskandidaten für das vakante Bürgermeisteramt hat er auch schon: Ein junger Ingenieur, „der ist vernünftig, kein Chauvinist, schließlich ist er mit einer Polin verheiratet.“ Weindok wählt seine Worte vorsichtig, er kennt sich aus im Labyrinth der Nationalitätenkonflikte - zuvor war er Pfarrer an der tschechischen Grenze bei Ukrainern, die nach dem Krieg aus dem Osten nach Schlesien zwangsumgesiedelt wurden und die von den vertriebenen und geflohenen Deutschen verlassenen Höfe übernahmen.

Nicht alle teilen Weindoks Interpretation der niedrigen Wahlbeteiligung, Politikmüdigkeit gibt es auch außerhalb Schlesiens, und dennoch ist die Frequenz dort am niedrigsten gewesen, wo die Deutschschlesier die besten Ergebnisse erzielten. Friedrich Kremser, Kopf der deutschsprachigen „Eichendorff- Gesellschaft“ in Opole, hat eine Erklärung dafür: „Die Leute sind nicht wählen gegangen, weil sie ohnehin bereits die Koffer gepackt haben. Wozu sollen sie wählen gehen, wenn sie in ein paar Wochen in der Bundesrepublik sind?“

„Deutschland

hat uns verraten“

In der Tat hält die Ausreisewelle an, obwohl die Schlesier nun erstmals die Möglichkeit bekommen haben, ihre Geschicke in die eigene Hand zu nehmen. Und das liegt keineswegs nur daran, wie manche polnischen Zeitungen behaupten, daß die Ausreisewilligen oft gar keine „richtigen Deutschen, sondern nur Wirtschaftsflüchtlinge“ sind. Vereinsvorstand Pryszcz: „Wenn wir nicht unser Haus hier hätten, wären wir auch schon lange fort. Deutschland hat uns verraten und verkauft. Vierzig Jahre lang haben wir hier ausgehalten in der Hoffnung, daß wir einmal wieder zu Deutschland gehören werden, und jetzt will Deutschland nichts mehr von uns wissen. 1939“, er spielt auf den Kriegsausbruch an, „hat Deutschland uns gebraucht, und jetzt haben wir unsere Schuldigkeit getan.“ Vor allem Kohls Äußerung, Deutschland müsse die bittere Pille schlucken und sich mit dem Verlust der Ostgebiete abfinden, hat hier eine regelrechte Torschlußpanik ausgelöst. „Jetzt wird es die Wiedervereinigung geben, und die in der DDR dürfen zur Bundesrepublik kommen“, beklagt sich auch Theresa Pryszcz, „Warum wir nicht? Alle haben den Krieg verloren, nicht nur wir hier.“

„Die Deutschen hier sind in den Knobelbechern von 1945 steckengeblieben.“ Friedrich Kremser schiebt seine Brille hoch, während er Dias sortiert. Kremser ist Fotograf und Heimatkundler, er bereitet gerade einen deutschprachigen Bildband über das Oppelner Land vor, daneben dichtet er, schreibt und organisiert Vorträge und Diskussionen über deutsche Kultur in Oppeln. „Wir sind hier keine Minderheit“, sagt er, „wir sind hier die Hausherren - aber daraus ziehen wir keine politischen Forderungen - im Gegensatz zu denen in Gogolin.“ „Die in Gogolin“, das ist die dortige Minderheitengesellschaft mit den beiden Krols an der Spitze: Jan Krol, der den Verband gegründet und jene denkwürdige Unterschriftenaktion gestartet hat, in deren Rahmen sich bereits über 200.000 Schlesier als Deutsche bekannt haben und Henryk Krol, sein Sohn, der vom Verband aufgestellt, vor wenigen Monaten zum polnischen Senat kandidierte. Kremser: „Wir wollen hier Bildungsarbeit machen, nicht den Leuten Ausreisevisa und Arbeit in der Bundesrepublik vermitteln. Wir müssen nicht beweisen, daß wir 200.000 sind, bei uns gibt's keine Mitgliedsausweise; Polen sind nicht ausgeschlossen, bei uns kann jeder mitmachen, der Deutsch spricht.“ „Wir“ steht in diesem Fall für den Bund der Oberschlesier und die Eichendorff-Gesellschaft, eine kleine Gruppe von deutschorientierten Lokalpatrioten mit intellektuellen Ambitionen. Kremsers Ziel ist „eine intellektuelle Spitze für die 200.000. Eine moderne Gesellschaft braucht mindestens 10 Prozent Intelligenz. Die Polen hier haben 50 Prozent Abiturienten - die deutsche Minderheit gerade 12 Prozent. 12 Prozent der Polen gehen auf Hochschulen, aber nur 3 Prozent der deutschen Schlesier.“

Deutschtum

in der Wagenburg

Viele, die sich zur deutschen Minderheit bekennen, identifizieren das Deutschland von heute mit jenem Deutschland, das sie selbst noch kennengelernt haben - das nationalsozialistische Deutschland. Eine Vergangenheitsbewältigung hat es bei ihnen nie gegeben, konnte es offiziell nicht geben, für Polens Behörden waren sie ja Polen, eine eigene Presse hatten sie nicht. Auf ihren Versammlungen singen sie das „Annaberglied“, das 1939 nach dem Überfall auf Polen geschrieben wurde („Zwanzig Jahre nach der Polenzeit, jetzt hat Deutschland endlich Dich befreit...“) und Lieder von Soldatentreue und Heimatliebe. Sie distanzieren sich von den Polen, „die nur saufen, aber nicht arbeiten wollen“. Ein Mitglied des „Deutschen Freundschaftskreises“ (DFK) in Zabrze (Hindenburg): „Was Deutschland im Krieg getan hat, hat es doch längst wiedergutgemacht. Und ohne den Krieg wäre Polen ja eh den Bach runter - die Polen haben doch danach unsere ganzen Häuser übernehmen können.“ Kremser: „Wenn ich mich zu Deutschland bekenne, dann muß ich mich auch zu Auschwitz bekennen. Aber das wollen die nicht.“

Vierzig Jahre waren die Schlesier polnischer und kommunistischer Propaganda ausgesetzt, und sie sind in den gleichen Fehler verfallen wie viele Polen: immer das Gegenteil für richtig zu halten. Doch während die Polen inzwischen wieder Vertrauen fassen zu ihren Zeitungen, hat sich in den Augen vieler Minderheitenaktivisten nur eines geändert: Die kommunistische Propaganda hat der polnischen Platz gemacht. An Beispielen fehlt es dafür nicht, denn antideutsche Haltungen finden sich quer durch alle politischen Strömungen in Polen, von Solidarnosc über die nicht mehr bestehende PVAP bis zu extremen Nationalisten. Die Versuchung, sich einfach in der deutschen Wagenburg zu verschanzen, ist da um so größer, je geringer das intellektuelle Potential ist, das die Bewegung treibt. Das nutzen die Funktionäre des Bundes der Vertriebenen, die inzwischen ihr Haupttätigkeitsfeld von der Bundesrepublik nach Oberschlesien verlegt haben. Allen voran Hartmut Koschyk, Geschäftsführer des Bundes, der in vielen Gegenden Oberschlesiens inzwischen zu Deutschlands bekanntestem Politiker avanciert ist. Kaum ein Jubiläum, kaum eine Vereinsversammlung, bei der Koschyk nicht anwesend ist. Der dynamische Mitdreißiger war es auch, der die Idee lanciert hat, es genüge, viele Unterschriften zu sammeln und sich zu organisieren, dann werde die Bundesregierung schon dafür sorgen, daß auch Oberschlesien bei der Wiedervereinigung nicht leer ausgehe. Welch‘ subtiler Floskeln sich die Funktionäre dabei auch bedient haben mögen, die Botschaft ist in den Stuben und Dorfkneipen jedenfalls in der einfachsten Form angekommen. Kremser: „Die Folgen waren verheerend, denn natürlich haben die Leute Koschyk geglaubt. Jetzt reden sie vom Verrat der Bundesregierung.“ Laut Vertriebenenverband ist es die „Unverschämtheit der Polen und der Mangel an nationaler Würde bei deutschen Politikern“, die für das Fiasko verantwortlich sind.

Und daß diese Interpretation ankommt, auch dafür gibt es einen Grund. Ewald Ochmann ist vorsichtig, wenn er mit Leuten spricht, die er nicht kennt. Er ist Kopf des „Deutschen Freundschaftskreises in Groß-Strelitz“, heute Strzelce Opolskie, und wenn er das Kürzel AGMO hört, muß er erst einmal ganz lange überlegen, was das ist. Dabei hat AGMO die Bibliothek in Strzelce Opolskie auf einen Schlag mit 5.500 Büchern ausgestattet, in regelmäßigen Abständen halten dort Lieferwagen und bringen Nachschub. Durch AGMO ist aus dem wohlhabenden Tischler Ochmann ein wichtiger Mann geworden, unter der Hand bekannt in ganz Oberschlesien. Er ist der Koordinator für AGMO, er verteilt die Lieferungen weiter: Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Satellitenantennen, mit denen man deutsche Programme empfangen kann.

AGMO steht für „Arbeitsgemeinschaft Menschrechtsverletzungen in Ostdeutschland“ - ein Komitee der Vertriebenen, beauftragt, die Presse und Politiker mit Fällen von „Menschenrechtsverletzungen in den deutschen Ostgebieten“ zu traktieren. Ihren Aktivitäten in Oberschlesien nach zu schließen hat sich das Interesse der AGMO etwas gewandelt. Am 18.April dieses Jahres stoppten polnische Zollbeamte an der Grenze bei Görlitz (Zgorzelec) einen Wagen der AGMO, der nach Strzelce Opolskie unterwegs war und beschlagnahmten 2.000 Exemplare der 'Schlesischen Nachrichten‘. Grund: In einem Artikel dieses Organs der Schlesischen Landsmannschaften war für Hartmut Koschyks neuestes Steckenpferd geworben worden: ein Plebiszit über die Zukunft Oberschlesiens. Vorbereitend wurde zu einer Unterschriftenaktion aufgerufen, die das Thema vor die Vier -plus-zwei-Konferenz zum Thema Oder-Neiße-Grenze bringen soll. Abstimmungsberechtigt sollen sein: die Bewohner Oberschlesiens plus die aus Oberschlesien Vertriebenen, Geflohenen und Ausgewanderten in der Bundesrepublik. Ein nicht geringer Teil der Auflage ist indessen trotz der Beschlagnahmung nach Oberschlesien gelangt und kursiert unter den Mitgliedern des „Deutschen Freundschaftskreises“. Einige von ihnen, so ist zu erfahren, führen die neue Unterschriftenaktion für ein Plebiszit tatsächlich durch.

Auf der Landkarte, die die 'Schlesischen Nachrichten‘ zur Kommunalwahl zwecks genauer Darstellung der Wahlchancen veröffentlichten, waren nicht nur die Grenzen von 1937 zu sehen, sondern auch die nationalsozialistischen Ortsbezeichnungen. Hitler hatte nämlich verfügt, daß auch Dörfer mit deutschen Ortsbezeichnungen in Polen, denen noch irgendetwas Polnisches anhaftete, umzubenennen und „vollkommen einzudeutschen“ seien. So hieß das heutige Zawadzkie bis in die dreißiger Jahre hinein auf deutsch Zawadzihütte. Dann nannten es die Nationalsozialisten Andreashütte, und so heißt es für die Redakteure der 'Schlesischen Nachrichten‘ auch heute noch. Die Ausgabe mit jener denkwürdigen Landkarte ist dem polnischen Zoll entgangen, doch selbst wenn - Polen ist nun demokratisch, eine Zensur findet nicht statt. Einstweilen sehen die polnischen Behörden dem Treiben noch zu.

Die 'Schlesischen Nachrichten‘ sind derzeit in den Haushalten der deutschen Minderheit noch weitgehend konkurrenzlos. Denn die verschiedenen Vertriebenenblättchen, vom Typ eines 'Hindenburger Heimatbriefs‘ oder 'Unser Schlesien‘ kann man kaum als Konkurrenz bezeichnen. Im Vergleich dazu wirken die 'Schlesischen Nachrichten‘ manchmal noch geradezu moderat. Unter dem Titel „Warum zeigen deutsche Politiker in der Oder-Neiße-Frage so wenig nationale Würde?“ stellt etwa der 'Hindenburger Heimatbrief‘ schlicht fest, „daß viele polnische Patrioten zwar bereit sind, für Polen zu sterben, aber nur wenige, für Polen zu arbeiten“ und daß nun in Bonn „über die Köpfe der Heimatvertriebenen hinweg unsere Heimat verschachert wird.“ Nachzulesen in der Zeitschriftenecke der Bibliothek in Strzelce Opolskie, wo das ganze Spektrum von Vertriebenenpublikationen ausliegt - allerdings keine einzige andere Zeitung. Geschichtsbücher sucht man ebenfalls vergeblich, mit einer Ausnahme: mehrere Regale voller Bände der vom BdV herausgegebenen „Ostgeschichte“.

Schwierige Versuche der Verständigung

Um den 'Schlesischen Nachrichten‘ etwas entgegenzusetzen und zu verhindern, daß die deutsche Minderheit zur starrsinnigen antipolnischen Vorhut der Vertriebenenfunktionäre wird, hat eine knappe Handvoll Journalisten der Oppelner 'Trybuna Opolska‘ den Versuch gestartet, eine Alternative zu schaffen. Herausgegeben von der 'Trybuna Opolska‘ erscheinen nun alle zwei Wochen die 'Oberschlesischen Nachrichten‘, auf polnisch und deutsch. Mit dem Deutsch hapert es noch ein bißchen, die Hälfte der Redaktion ist des Deutschen nicht allzu sehr mächtig. Im Programmbeirat sitzen indessen Vertreter der Gogoliner Minderheitenvereinigung. Die ersten beiden Ausgaben waren ein Erfolg, auch wenn der Versuch mißlungen ist, die Zeitung von den Minderheitenaktivisten selbst vertreiben zu lassen. Über die Kioske wurde bis auf 400 Stück die ganze Auflage von 30.000 Exemplaren verkauft. Aus der Wojewodschaft Katowice kamen haufenweise Bitten nach mehr.

Trotzdem ziehen sich über den 'Oberschlesischen Nachrichten‘ Gewitterwolken zusammen. Denn die 'Trybuna Opolska‘ ist Teil des RSW-Konzerns, welcher wiederum einst die Haupteinnahmequelle der „Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei“ war. Dann löste die PVAP sich selbst auf und die Regierung in Warschau liquidierte den RSW-Konzern - mit der Begründung, er beherrsche fast den gesamten polnischen Zeitungsmarkt durch sein Monopol in Vertrieb und Druck. In Opole traf Janusz Nawarowski ein, regierungsamtlich bestellter „Liquidator“, der nun über die Zukunft der Zeitung - und damit auch der 'Oberschlesischen Nachrichten‘ zu entscheiden hat. Nawarowski äußerte bereits, der Fortbestand der Nachrichten sei „mit der polnischen Staatsräson nicht vereinbar“, unter anderem deshalb, weil die Nullnummer am 20.April erschien, am Geburtstag Adolf Hitlers also. Andrzej Jagiella, einer der Redakteure der Zweiwochenzeitung, bekam prompt zu spüren, welche Macht das Wort eines „Liquidators“ hat: Polnische Kollegen zogen haufenweise ihre Texte für die nächste Ausgabe zurück, die 'Oberschlesischen Nachrichten‘ erschienen mit einwöchiger Verspätung.

Anna Kracher, Mitarbeiterin und in gewisser Weise die „Seele der Zeitung“, befürchtet, Solidarnosc wolle die Zeitung nun übernehmen, im Rahmen der 'Bürgernachrichten‘, der vom Oppelner Bürgerkomitee Solidarnosc gegründeten Konkurrenz zur 'Trybuna Opolska‘, die demnächst erscheinen soll. Doch mit „denen von Solidarnosc“ will Anna Kracher nichts zu tun haben, „die wollen nur ein Monopol durch das andere ersetzen“. Falls ihre Zeitung unter die Fuchtel der Solidarnosc kommen sollte, sieht Anna Kracher schwarz für die Glaubwürdigkeit des Blattes in der deutschen Minderheit.

Zwar gab es während des Kommunalwahlkampfes einzelne Koalitionen zwischen Solidarnosc und Minderheitenlisten, doch unter der Oberfläche schwelt ein Konflikt, der besteht, seit Henryk Krol vor einigen Monaten bei den Nachwahlen zum Senat gegen die Völkerkundlerin und Solidarnosc-Aktivistin Prof. Dorothea Simonides antrat. Auch Frau Simonides beobachtet die Aktivitäten der Vertriebenenfunktionäre in Oberschlesien mit Beunruhigung, auch sie möchte, daß sich die Minderheit selbstverwaltet und findet die 'Oberschlesischen Nachrichten‘ unterstützenswert. Wenn sie von den Schlesiern spricht, klingt es, als spreche eine besorgte Mutter über ihre etwas mißratenen Kinder. Sie kenne nur Deutsch-Schlesier und Polnisch-Schlesier, daß viele der einstigen Deutsch-Schlesier nun vom Schlesiersein nichts mehr wissen wollen und sich einfach zu Deutschen erklären, gefällt ihr gar nicht: „Die entwurzeln sich selbst, manche sagen, sie wären am liebsten Bayern. In Polen gelten sie dann als Deutsche, aber wenn sie nach Deutschland kommen, heißt es dort bloß, 'schon wieder Polen‘. Da ist die Gefahr groß, daß sie sich negativ definieren, abgrenzen, versuchen, ihre Identität durch Distanzierung von den Polen zu gewinnen.“

Eine Brücke zwischen Deutschen und Polen

Franciszek Marek, Dozent am „Schlesischen Institut“ in Opole, drückt das noch etwas krasser aus. Für ihn ist die deutsche Minderheit in der Mehrheit „eine Masse von Lügnern, die sich ihr Deutschtum verdienen, indem sie die Polen bespucken“. Marek ist Kopf des Oberschlesischen Bundes, der auf dem Standpunkt steht, daß es in Oberschlesien keine Deutschen gibt, sondern nur Schlesier, die sich nach Polen orientieren müssen, wenn sie sich nicht die Anschuldigung gefallen lassen wollen, ihre Ansichten für D-Mark zu verkaufen.

Das Bürgerkomitee Solidarnosc kann sich nicht nur auf die Minderheit beziehen - es muß sich auch nach der Stimmung in der übrigen Bevölkerung richten. Und die reagiert auf das „Erwachen“ der Deutschen mit sehr gemischten Gefühlen, vor allem mit einer Abwehrhaltung. Den irrationalen Hoffnungen vieler Minderheitenaktivisten auf eine baldige „große Wiedervereinigung“ entsprechen die irrationalen Ängste der Polen: „Wozu investieren“, heißt es auf den Dörfern, „bald kommen die Deutschen wieder.“ Daß sich Solidarnosc nicht entschließen konnte, Krol als Senatskandidaten aufzustellen, sei gar nicht nur auf Mißverständnisse und Ungeschicklichkeiten bei der Kandidatenaufstellung zurückzuführen, heißt es aus Kreisen des Bürgerkomitees Solidarnoscs: „Krol hätte man landesweit gegen Solidarnosc ausspielen können.“

Schlesien hat gewählt, doch die wichtigste Entscheidung ist nicht gefallen: Ob die deutsche Minderheit in Oberschlesien künftig ein antipolnischer Vorposten westdeutscher Vertriebenenpolitiker oder eine Brücke zwischen Deutschen und Polen sein wird.