Für eine Handvoll Deutschmark

■ Eigentlich fing die neue Zeit an, wie die alte aufgehört hatte - mit Schlange stehen. Bereits in den Abendstunden hatten sich Tausende vor der Deutschen Bank am Berliner Alexanderplatz versammelt. Um Mitternacht setzte dann die kollektive Hysterie ein. Bilanz des ersten DM-Tages: Scherben und Verletzte.

Seit Sonntag, nullnull Uhr, regiert die DM in der DDR

Heulende Polizeisirenen, knallende Feuerwerkskörper und Autohupen - Berlin Alexanderplatz in der Nacht von Samstag auf Sonntag. Der Platz ähnelt einem Jahrmarkt. Tausende Menschen stehen Schlange vor der neu eröffneten Filiale der Deutschen Bank. Punkt Mitternacht, zeitgleich zum Beginn der Währungsunion, sollen die begehrten DM-Scheine ausgegeben werden: Die Schecks im Werte von 100 bis 2.000 DM - jeder konnte den Betrag selbst bestimmen - sind bereits vergangene Woche verteilt worden. „Dieser Sonntag macht unser Leben besonders schön. Die erste Bank öffnet heute schon Mitternacht. „DM + WM“ hatte die 'BZ‘ in ihrer Schlagzeile vom Samstag prophezeit. „Prosit Neujahr. Dabeisein ist alles“, ruft ein Mann, der schon seit sechs Stunden in der Schlange steht.

Ein Herr im Anzug verkündet den Wartenden die Heilsnachricht: „Guten Tag, meine Name ist Hartmann von der Deutschen Bank. Bitte haben Sie Geduld. Jeder wird heute bedient. Wir haben genügend Geld für jeden da. Die Bank ist groß genug.“ Seine Worte werden mit Dankbarkeit quittiert. „Wir haben 40 Jahre gewartet, heute warten wir gerne.“ Derweil filmen Kamerateams im oberen Stockwerk der Bank den ersten DM-Empfänger: Hans Joachim Corsalli heißt er, ist 41 Jahre alt und fährt Kohle. 3.000 DM hebt er für sich und seine Familie ab. Das KadeWe schenkt ihm einen Korb mit echtem Champagner, von der Deutschen Bank gibt es ein Sparbuch über DM 100. Die PR-Aktion scheint perfekt. Wer es schafft, in die Bank eingelassen zu werden, kann sich glücklich schätzen. Vor der Tür tobt der Kampf um Einlaß. „Ich habe mich ordentlich angestellt, wie eine Deutsche“, erzählt Ilona Krüger. Um 19.00 Uhr war sie noch die Zehnte in der Schlange, doch Rowdies haben sie abgedrängt. Nun, sieben Stunden später, ist sie wenige Schritte vom Schalter entfernt. Für den Scheck mit Adler-Aufdruck gibt's 500 DM. „Es ist eine Schlange der Hoffnung und der Zukunft“, kommentiert Detlef Kümmerle, der nach ihr in der Schlange steht.

Fast keiner der anwesenden benötigt die DM sofort. In der Regel haben sie noch DM-Beträge in der Geldbörse. Man könnte zu ruhigerer Zeit, Tage später, die Schecks einlösen. Doch hier geht es nicht um konkrete Scheine zum Ausgeben, sondern um den angehimmelten Fetisch Geld. Aus allen Teilen der Welt sind Kamerateams und Fotografen angereist, um ihre Objektive auf die DM-Empfänger zu richten. Sie behandeln die Menschen wie Tiere im Zoo. Es soll der Beweis erbracht werden, daß die Tiere ihr Zoofutter mögen. „So, die Scheine schön in der Hand halten und fröhlich und glücklich lächeln“, instruiert ein Fotograf eines seiner Opfer. Auch der Hausfotograf der Deutschen Bank will sie festhalten: die Geilheit auf DM. Ein erniedrigendes Schauspiel.

Kunden durch die

Scheiben gequetscht

Während im oberen Stockwerk der DM-Triumph gefeiert wird, herrscht draußen die schiere Torschlußpanik. Vor dem Einlaß der Bank werden Menschen gequetscht, getreten, fallen in Ohnmacht. Die Masse drückt und drückt auf den Eingang. Ein Dutzend Schutzpolizisten stemmen sich gegen sie. Die Scheiben der Bank klirren. Verstärkung wird angefordert. Rot -Kreuz-Helfer versuchen Verletzte und Bewußtlose wegzutragen. Rechts neben dem Eingang ist bereits eine Sanitätsstation eingerichtet. Ein Dutzend Krankenwagen steht vor dem Hintereingang. Um 2 Uhr schafft es keiner mehr so recht, heil in die Bank zu kommen. Ein Horrorbild. Alte Frauen und Männer kommen mit Beulen und blauen Flecken an. „Ich dachte, ich werde hier Däumchen drehen“, sagt die Bankangestellte Gabriele Friederichs, die eigentlich Werbeprospekte der Deutschen Bank verteilen sollte. „Gabriele, geh schnell zu den Verletzten rüber“, ruft ihr ein Kollege zu.

Eine junge Frau, die gerade reingekommen ist, setzt sich neben mich. Sie weist auf ihre blauen Flecken. In dem allgemeinen Chaos kümmert sich niemand um sie. Sie zittert am ganzen Körper, bricht in Tränen aus. „Das ist ja wie im Krieg.“ Zum Glück hat sie keine Scherben abgekriegt, obwohl sie durch die kaputte Glastür gestoßen wurde. Heike Vogt wollte ihren 1.000-DM-Scheck einlösen, um die nächsten zwei Wochen über die Runden zu kommen. Bis Dezember hatte sie noch Arbeit, im Großbetrieb Radio Stern. „Dann haben sie mir 'ne Kündigung nahegelegt, die ich unterschrieben habe. Eine Westfirma hat den Laden übernommen. Die können keine Mütter gebrauchen, die nur tagsüber und nicht Schicht arbeiten.“ Weil sie selbst gekündigt hat, erhielt sie keine Abfindung. Seit Anfang Juni hat sie wieder einen Job - als Reinigungskraft in einem Kindergarten. Es geht ihr elendig. Sie ist eine der Wenigen, die den Tag bereuen.

Fünf Meter weiter hält Herr Hellmut Hartmann, Pressesprecher der Deutschen Bank, Ansprachen an Journalisten: „Es gibt keine ernsthaften Verletzungen. Wir haben den Polizeischutz verstärkt. Wir stabilisieren jetzt die Lage an der Tür.“ Während Rot-Kreuz-Helfer Verletzte auf Tragbahren raustragen, frage ich ihn nach den Perspektiven der Währungsunion. „Alle Leute möchten die DM haben, und zwar schnell.“ Mit einem süffisanten Lächeln verweist er stolz auf die Erfolgsbilanz: „Die Polizei sagte mir, daß draußen 10.000 Leute warten.“ Unter dem Gejohle der Massen hat der Geldadler gesiegt. Selbst der schwitzende Schutzpolizist, der in der kollektiven Hysterie dieser Nacht Schlimmeres verhüten soll, bemerkt: „Verstehen kann ich die Leute irgendwie.“

Der Suff verwischt

die Grenzen

Gegenüber der Deutschen Bank vor dem Hotel Stadt Berlin toben betrunkene Jugendliche. Glasscherben überall. Auf einem LKW feiern Dutzende im Suff die Währungsunion. Sie schwenken die deutsche Fahne und grölen „Deutschland, Deutschland“. Im Suff verwischen sich die Grenzen. Einige strecken das Victory-Zeichen aus, andere recken ihre Hand zum Hitlergruß. Ein bärtiger Mann stoppt einen BVG-Bus. Der Fahrer soll erst weiterfahren dürfen, wenn er den Nazi-Gruß erwidert. Der Adler ist an diesem Tag nicht nur auf den Schecks, sondern auch draußen. In Form der Reichsadlerflagge, die neben der Deutschlandfahne von hupenden Autos aus geschwenkt wird. „Ist das nicht ein großartiger Tag mit sovielen fröhlichen Menschen“, klärt mich ein Mittfünfziger auf.

Ömer Erzeren