„Ich will meine Akte sehen!“

■ Leipziger Schriftsteller Erich Loest sieht seine Stasi-Akte ein / Aktennotizen finden in seine Autobiografie „Zorn des Schafes“ Eingang / Loest spricht sich gegen geplante Aktenvernichtung aus

Leipzig (taz) - Auf dem außerordentlichen Kongreß des Schriftstellerverbandes der DDR im März dieses Jahres stand plötzlich ein Mann auf und rief mitten in die Diskussion: „Ich will meine Akte sehen!“. Es war der ehemals Leipziger Schriftsteller Erich Loest. Den Behörden der DDR früh unbequem geworden, kritisierte Loest nach dem 17. Juni 1953 und dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 öffentlich den stalinistischen Kurs der SED, der er „Volksfremdheit und Verlogenheit“ vorwarf. Im Bekanntenkreis verlangte er die Absetzung Walter Ulbrichts. 1957 wurde Loest verhaftet und wegen „konterrevolutionärer Gruppenbildung“ („Gruppe Harich“ und Petöfi-Kreis) zu sieben Jahren Haft in Bautzen verurteilt. 1981 verließ er nach vielen Querelen die DDR und reiste in die Bundesrepublik aus.

Fürsorgliche

Beobachtung

Ende 1988 kam Erich Loest nach sieben Jahren wieder in die DDR: „L. traf am 28.11.88, gegen 17 Uhr, mit einer Studiendelegation vom Studienhaus Wiesneck bei 'International e.V.‘ in Leipzig ein und wurde im Zimmer 514 (Einzelzimmer) des Interhotels 'Stadt Leipzig‘ untergebracht. Nach kurzem Spaziergang in der Zeit von 19.00 Uhr bis 19.30 Uhr in Begleitung einer weiblichen Person aus der Delegation, begab er sich in Begleitung dieser Person gegen 20.45 Uhr zur Gaststätte des Gewandhauses 'Stadtpfeiffer‘. Dort hielten sich beide Personen bis 22.33 Uhr auf und gingen zurück in das Interhotel 'Stadt Leipzig‘, wo sie gegen 22.45 Uhr eintrafen. Bei der Begleitperson handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um...“

Diese fürsorglichen Beobachtungen, auch „operative Kontrollergebnisse“ genannt, arrangierte die Stasi bei jenem Besuch Loests 1988 in Leipzig. Minutiös zeichnete sie jede Begegnung, jeden Besuch des Schriftstellers auf. Man hatte ihn eigens dafür in die DDR einreisen lassen, um auf eventuelle Spuren und Kontakte des „Staatsfeindes“ zu kommen. Ihre Technik muß hervorragend gewesen sein: „19.30 Uhr besuchte L. die Vorstellung des Kabaretts 'Akademixer‘, zu der er nach inoffiziell bestätigten Informationen am Vormittag des 29. 11. 88 während eines zufällig stattgefundenen Zusammentreffens auf dem Sachsenplatz durch den Kabarettisten Bernd-Lutz Lange eingeladen wurde. Anschließend an das Programm hielt sich L. bis ca. 23.00 Uhr in der Gaststätte 'Akademixerkeller‘ auf. Dazu konnte inoffiziell erarbeitet werden, daß die Gespräche unter anderem beinhalteten: ...“

Blick in die Vergangenheit

Diesen Spitzelbericht konnte Erich Loest vergangene Woche einsehen. Eigens dafür war er nach Leipzig gekommen, um das Unglaubliche zu lesen: seine Stasi-Akte. Das Bürgerkomitee Leipzig hatte es auf Drängen des Schriftstellers ermöglicht. Der Grund: Erich Loest arbeitet an seiner Autobiografie „Zorn des Schafes“, die im September im Linden-Verlag erscheinen wird. Nun ist es für ihn interessant, „Aktennotizen“ der Stasi hinzuzufügen. Jedoch: Leipzigs Akten sind in Gefahr! Die neueingesetzte Regierungskommission zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit plant, alle Aktendossiers zentral in Berlin zu sammeln, um sie dann mit einigen Ausnahmen zu vernichten.

Loest protestiert im 'Sächsischen Tageblatt‘: „Einen einzigen Spitzelbericht kenne ich, nach den anderen wird gesucht. Ich hoffe auf Klärung, wer was nach meiner Verhaftung 1957 beiseite gebracht hat. Ich wurde zu Zuchthaus und Vermögensentzug verurteilt - meine geliebte Goethe-Ausgabe von Göschen, nicht wieder zu beschaffene 'Weltbühne'-Jahrgänge, wo sind sie geblieben?“ Geblieben ist nur die Stasi-Akte als Beweismaterial. Verschwindet auch sie, bleibt für Loest und viele andere: wieder nichts!

M. Schibilski