Antimilitaristische Bahnhofsmission

■ Auf dem Hauptbahnhof: Wehrmachts-Deserteur hilft Bundeswehr-Rekruten beim Nachdenken

Wenn zweimal im Jahr - zum 1. Juli und zum 1. Januar hunderte kurzhaarige junge Männer mit Sporttaschen in den Bremer Bahnhof strömen, um mit den Militärzügen der Bundesbahn in die Kasernen verladen zu werden, in denen sie anderthalb Jahre lang zum Soldaten gedrillt werden sollen, dann steht ihnen auf dem Bahnsteig ein Pappkamerad gegenüber.

Dahinter steckt Ludwig Baumann, der in ähnlich jungen Jahren wie die Bundeswehr-Rekruten aus der Nazi-Wehrmacht de

sertierte und den Rest des Krieges im Konzentrationslager erlitt. „Laßt Euch nicht zu Spezialisten des Tötens ausbilden“, rät er den jungen Männern auf dem Bahnsteig und verteilt „Informationen für unzufriedene Sodaten“, ein kleines Heftchen, in denen steht, wie der Kriegsdienst auch noch verweigert werden kann, nachdem man ihn schon begonnen hat, welche Rechte Rekruten trotz Uniform und Kasernierung haben und wer ihnen weiterhilft, wenn sie vor Bund und Feldjägern bis nach Holland oder Spanien fliehen.

Seit über zwei Jahren hören die jungen Spunde der Bahnhofsmission des alten Antimilitaristen aufmerksam zu. Aber gestern bekam der Deserteur zum ersten Mal spontanen Applaus.

„Das nimmt hier alles seinen

normalen Gang“, murmelte der Feldwebel, der danebenstand. Doch die Stimmung hat sich dank Abrüstung, Perestroika und osteuropäischer Revolutionen verändert. Meinten viele der Rekruten in vergangenen Jahren noch, in der Bundeswehr würden sie die rechte Antwort gegen die „Bedrohung aus dem Osten“ lernen, erwarten sie heute nichts mehr vom Bund, „jedenfalls keine sinnvolle Aufgabe“, wie einer sagt. „Unter dem Pappkameraden stell ich mir bestimmt keinen Russen vor“, sagt ein anderer, „das sind Schießübungen für mich wie im Schützenverein.“

So harmlos ist das anderthalbjährige Soldatenleben allerdings nicht. Trotz Auflösung des Feindbilds wird in der Bundesrepublik gerade der größte Rüstungsetat aller Zeiten verballert, erfahren

die Rekruten auf dem Bahnsteig, und die Nato ist das einzige Militärbündnis, das noch den Angriff mit Atomwaffen als „Verteidigungsstrategie“ vorbereitet hat.

Darüber haben die jungen Männer noch nicht nachgedacht, aber in diesem Jahr hören sie zumindest zu. Und auch als zwei weitere Friedensfreunde mit einem Transparent „BRD ohne Armee“ fordern gibt es Szenenapplaus. „Vielleicht wird die Wehrpflicht ja bald abgeschafft“, hoffen einige, „die 12 -Monats-Regelung werden wir wohl auf jeden Fall noch mitkriegen“, meinen andere. Aber an Kriegsdienstverweigerung hat keiner im ernst gedacht: „Das wären ja nochmal vier Monate mehr, und ein Praktikum für Elektrotechnik könnte ich im Altersheim auch nicht machen.“

Ase