Erst kieken und dann kaufen

■ Gebremster Kaufrausch in Ostberliner Innenstadt / Nur im Kaufhaus Centrum ging es rund / Westwaren überall, Regale in der Lebensmittelabteilung quellen über / DDR-Produkte landen auf den Grabbeltischen / Männerhosen für zwei Mark

Mit dem Westgeld in der Tasche standen am Sonntag die neuen DM-Bürger vor den Schaufenstern der Innenstadt und drückten sich die Nasen platt. Die westlichen Waren glitzerten verheißungsvoll. Morgen, Kinder, wird's was geben. Gestern war nun Bescherung, und Lothar de Maiziere hat sein Volk richtig eingeschätzt. Im großen und ganzen blieb der Kaufrausch aus, die Mehrheit der Ostberliner behält ihr Geld vorerst in der Tasche. Erst mal gucken und die Preise vergleichen, heißt die Devise.

Nur im Kaufhaus Centrum geht es rund. Wie in alten Zeiten bilden sich schon vor Öffnung der Tore um neun Uhr die ersten Schlangen, jeder will der erste sein, es wird gedrängelt und geschubst. Die Eile wäre nicht nötig gewesen, die Regale des Kaufhauses sind randvoll und die Warenlager eingerichtet auf den ganz großen Einkauf. Sonderangebote noch und noch. „Wir haben damit gerechnet, daß viele kommen“, sagt der Einkaufsleiter der Abteilung Unterhaltungselektronik, „aber unsere Erwartungen sind weit übertroffen worden.“ Verkauft werden West-, aber auch einige Ostwaren. Die zum fünftenmal in den letzten zwei Wochen herabgesetzten Preise für Fernseher, made in GDR, sind am Wochenende nochmals halbiert worden. Um 9 Uhr 30 waren die großen Apparate mit einem Verkaufspreis von 299 DM ausverkauft. Ab dann gab es nur noch Westapparate, das Stück zu 599 DM. Der große Renner sind aber nicht die „Anschaffungen“, sondern die kleinen Extras. Leerkassetten, Videobänder, Kopfhörer und Batterien. Bezahlt wird mit den neuen Hundertmarkscheinen, Wechselgeld muß ständig aufgefüllt werden.

Den größten Ansturm erlebt die Lebensmittelabteilung. Die Einkaufswagen reichen bei weitem nicht, geduldig stehen die Hausfrauen da und warten und warten. Es wiederholt sich das Wunder der Währungsreform von 1948. Die Regale biegen sich unter den Köstlichkeiten, die Tiefkühltruhen sind randvoll mit gefrosteten Gemüse und Geflügel. Westwaren überall, nur die Brot- und Kuchenabteilung erinnert an das alte Preisniveau der alten DDR. Butterkuchen für 47 Pfennig, Schokoladentorte, die Scheibe für 1,11 DM. Sonst gibt es in der ganzen großen Lebensmittelabteilung nichts aus dem Osten.

Die Fleischabteilung quillt über von Waren aus dem Westen. Der neue Lieferant schlachtet bei Hamburg, der Liefervertrag mit dem Fleischkombinat Eberswalde ist rechtzeitig zum 30. Juni gekündigt worden. Es gibt Kaßler Kamm, Rindersteaks und Aufschnittsorten aller Art, alles festtagsmäßig präsentiert. Schluß ist es mit der guten alten Tomatenleberwurst, Bierschinken ist angesagt. Gezupfte Petersiliensträußchen und rote, zu Blumen aufgerollte Servietten zwischen all den Fleischbergen sollen die Kauflust anregen. „Ich kann es kaum glauben, mir ist richtig übel“, sagt eine Studentin aus Frankfurt an der Oder. Säfte, Kaffee, Käse, Gemüse, Obst, Dutzende von Nudelsorten: die Käufer scheinen aus dem Staunen nicht herauszukommen.

Die Verkäuferinnen wirken überirdisch. Sie haben praktisch seit Freitag nacht durchgearbeitet, kaum eine von ihnen hat in der Nacht zum Montag länger als vier Stunden geschlafen. Arbeitsbeginn für die Frühschicht war 4 Uhr 30, für alle gilt die Urlaubssperre bis Mitte des Monats.

Trotz der ganzen Pracht sind die Käufer vorsichtig. Die Kassen klingeln zwar wie vor Weihnachten, aber die Masse macht den Gewinn, nicht der einzelne Großeinkauf. Die Hausfrauen, Männer sind kaum zu sehen, verhalten sich überlegt. Die holländischen Erdbeeren in EG-normgerechter Größe und in Pappschälchen, das Pfund zu 2,99 DM, bleiben stehen, denn draußen vor der Tür steht der Lastwagen aus Werder mit den Erdbeerkörben, vier Pfund für 8 DM.

Der ganz große Renner des Kaufhauses sind Bundhosen des VEB Kleiderwerks „Elegant“. Der ursprüngliche Verkaufspreis von 85 Ostmark war in der letzten Woche auf 19 Ostmark gerutscht. Gestern gab es die Baumwollkreationen für zwei DM. Weil die Aluchips bis 50 Pfennig noch gelten, wurden sie mit alter Währung bezahlt. Nicht die DDR-Bürger griffen zu, sondern die neuen Armen der künftigen Westmarkgesellschaft, die Polen, Rumänen und Vietnamesen.

Anita Kugler