Offene Fragen

■ betr.: "an den "Pilzsucher" Diestel

an den „Pilzsucher“ Diestel

Auch ich war schon mal ein Terrorist, Herr Innenminister. Wann endlich lassen Sie mich verhaften? Ja, ich habe vor fast 70 Jahren als noch halbwüchsiger Bursche an der Seite des „berüchtigten“ Max Hoelz kleine Dorfsparkassen zwischen Halle und Leipzig überfallen und das wenige Geld, das damals erbeutet werden konnte, der Kommunistischen Partei übergeben, die es nach unserer damaligen Meinung sinnvoller für die Revolution und die Befreiung der Arbeiter verwenden konnte. Sehr schnell lehrte mich das Leben - und ich glaube auch viele andere Kommunisten von damals -, daß man Revolutionen niemals für andere Menschen durchführen kann. Später sangen wir als junge Sozialisten den Refrain des alten Arbeiterliedes „vom Unverstand der Massen, den Feind, den wir am tiefsten hassen“.

Immerhin, Herr Minister, scheinen Sie besonders erfolgreich bei Ihrer wohl liebsten Beschäftigung, dem Aufspüren von „angeblichen Terroristen“ der Bundesrepublik hier bei uns auf dem Gebiete der DDR. Obwohl der BND schon seit langem im Besitz von Informationen ist über den Aufenthalt von RAF -Leuten in der DDR, hat er bisher geschwiegen, wohl auch aus taktischen Rücksichten auf die SED und Herrn Honecker. Jetzt, wo exakte Unterlagen und sogar Adressen vorliegen, wird die ganze Angelegenheit zur Aufpolierung Ihres Images, Herr Minister Diestel, hochgespielt. Für eingeweihte, seriöse und gewissenhafte Bürger erscheint das komödienhaft und erinnert - bitte lassen Sie mich es so benennen - an eine schwüle sizilianische Mafiotenstory a la Hitchcock. Dieselben Leute, die den RAF-Rebellen Asyl gewährten, sie in die DDR holten, zu welchem Zweck auch immer, liefern sie jetzt ans Messer, nur um die eigene Haut zu retten oder vielleicht dabei auch einige „blaue Hundert“ zu kassieren, sozusagen als Kopfgeld. Wo, Herr Minister, bleibt da die gerade von Ihnen immer wieder beschworene „Moral“, die Menschenwürde, ja, der einfache bürgerliche Anstand?

Acht solcher „Verbrecher“ haben Sie bereits, sich rühmend, zur Strecke gebracht. Die Stasi-Leute und der BND in Ihrer Umgebung werden für weiteren Nachschub sorgen. Zur gleichen Zeit aber steigt die Zahl der kriminellen Delikte in der DDR beängstigend in die Höhe. Überfälle, Raub, Mord und Diebstahl, besonders an wehrlosen älteren Bürgern sind an der Tagesordnung. Auch die Überfälle auf Antifaschisten und ihre Stützpunkte nehmen zu und die Friedhofs- und Grabschändungen faschistischer Rowdys ereignen sich bei Tag und bei Nacht. Wo aber ist hier die von Ihnen befehligte Polizei?

Was jedoch ganz stark gerade im Ausland und bei den Nachbarvölkern Wut, Empörung, aber auch Scham und Entsetzen über dieses „neue Deutschland“ auslösen muß, ist Ihre Passivität gegenüber den in den letzten Wochen stattgefundenen Grabschändungen und Beschmutzung von Denkmälern deutscher Dichter und Schriftsteller, wie Brecht, Wolf und andere. Wäre etwas Ähnliches im bayerischen Augsburg passiert, bin ich überzeugt, nicht nur die Bürgerschaft hätte protestiert, sondern auch der Bürgermeister und vor allem der bayerische Ministerpräsident. Unsere Behörden aber in Berlin haben geschwiegen. Auch Sie, Herr Innenminister und Ihre Polizei. Schließlich waren Brecht, Weigel und die anderen ja nur frühere SED-Anhänger und überzeugte Kommunisten. Hatte der Konsistorialpräsident der evangelischen Kirche, Herr Stolpe, also doch recht, wenn er in seiner Festrede zum 17. Juni vor diesem neuen Feldzug gegen den Marxismus warnte?

Wir stehen bereits mittendrin. Die alte deutsche Krankheit „Immer alles gründlich zu tun“, hat in Ihrer Umgebung, Herr Minister, tiefe Wurzeln. Die Profiteure des Oktober- und Novemberumbruchs, wo noch das Volk auf der Straße war und die Stunde regierte, nutzen heute schamlos die ihnen gegebene Macht gegen die Verursacher der Wende aus. Leider ist dem so: Macht und Machtausübung korrumpieren und verführen auch solche Kräfte, die bisher als unbescholten galten. Wir aber, die Umgestalter und Veränderer sind und bleiben beim Volk, so viel Dreck und blinder Haß auch über uns ausgegossen wird. Noch immer gilt: Wer zuletzt lacht, lacht am besten.

Werner Thalheim