Hauptstadt

■ betr.: "Hauptstadt Berlin, klar ey!", Kommentar von Erich Rathfelder, taz vom 26.6.90

betr.: „Hauptstadt Berlin, klar ey!“, Kommentar von Erich Rathfelder, taz vom 26.6.90

Das zunehmende Getrommel für Berlin als Hauptstadt, von den dortigen Bürgermeistern bis zur taz angestimmt, hat etwas derartig Eintönig-Irrationales, daß es leicht wäre zu sagen: gerade deshalb, nein danke.

Aber es gibt nun wirklich so viele Gründe, die für den Status quo sprechen, was die Hauptstadtfunktion angeht als Verwaltungszentrum dieses Staates, daß eine Ahnung davon auch in Berlin vorhanden sein muß. Wie anders wäre diese unwitzige, hitzige Fingerschnippserei zu erklären: Jetzt sind wir dran.

Und dann der wiederaufgekochte Mythos vom Berlin als Bollwerk gegen das Kleinbürgertum. Historisch gibt es keinen Beleg für derlei Heroismusphantasien, in Deutschland schon gar nicht, und aktuell ist nur vorstellbar, daß der Spielplatz Kreuzberg und seine Bewohnerschaft gern im Größenwahn baden - nichts dagegen. Das erinnert an die sympathischen Freistaatträume im Frankfurter Studentenviertel Bockenheim, ernsthaft.

Eins der schönsten Produkte der Berliner Tourismusindustrie war immer die Konserve mit dem Etikett „Luft“. Ich finde, da sollte angeknüpft werden. Will heißen: die staatliche Verwaltung bleibt, wo sie ist, weil in Bonn gar keine Chance zu mehr als symbolischer Großmannssucht ist.

Berlin - um mit Rathfelder zu sprechen - hat die Chance, „zur Drehscheibe eines offenen Europas mit allen kulturellen Mischungen zu werden“.

Berlin, das kulturelle Tor oder besser die Brücke zu Osteuropa, i.e. als Kulturmetropole, die, wenn es dort denn mehrheitlich gewünscht wird, auch Hauptstadt spielen können soll, mit dem Sitz des Staatspräsidenten, des Präsidenten des Deutschen Fußballbundes und solchen verdienstvollen Einrichtungen wie dem - leider verblichenen

-Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen.

Als Alternative hier der Vorschlag: Nach dem Vorbild Brasiliens und Brasilia ein Deutschland mit Germania - wär damit Staat zu machen? Im übrigen, Den Haag ist auch nicht gerade die größte Metropole im Nachbarland.

Johannes Winter, Rosbach

(...) Wirklichkeitsnäher wäre, die Hauptstadt Berlin-Frage im Zusammenhang mit der politischen Entwicklung in Europa zu sehen. Die wird meines Erachtens vor allem geprägt durch: KSZE-Prozeß - über den, wie Antonio Gambino (Euro-taz vom 21.6.90) richtig meint, USA und UdSSR Einfluß auf Europa behalten wollen; Entwicklung der EG hin zum „Europäischen Wirtschafts-Raum“ (EWR) durch Verbindung mit der EFTA und im Zuge der Angliederung osteuropäischer Staaten; Ausdehnung einer eventuell veränderten Nato nach Osteuropa und Verschwinden des Warschauer Paktes. Diese komplexe Entwicklung liegt durchaus im Interesse einer künftigen deutschen Wirtschafts-Großmacht, die im Rahmen des KSZE -Prozesses zum entscheidenden Gravitationszentrum des oben erwähnten EWR werden, auf lange Sicht die USA aus Europa verdrängen und zum wirtschaftlichen Vorzugspartner einer künftigen „Großmacht Rußland“ (vergleiche Brennpunkt vom 27.6.90) werden könnte.

Eine derartige moderne Vision eines nationalstaatlich strukturierten, deutsch-dominierten europäischen Reiches mit einer „klar ey„-Hauptstadt Berlin oder eine Europäische Föderation autonomer Regionen - in die auch und vor allem Deutschland aufzugliedern ist - mit mehreren politischen und administrativen Nervenzentren in Weiterentwicklung des heute noch schlecht funktionierenden Ansatzes, den die EG praktiziert? - das scheint mir die grundlegende Alternative, vor der wir EuropäerInnen heute stehen. Die Entscheidung sollte im Interesse der Menschen zugunsten eines föderalistischen Europas fallen.

Lutz Roemheld, Fröndenberg

(...) In dem über tausendjährigen Zeitabschnitt, den man gemeinhin „deutsche Geschichte“ nennt, ist Berlin gerade 74 Jahre lang Hauptstadt gewesen. In dieser Zeit sind von Deutschland - und damit von Berlin - zwei Weltkriege ausgelöst worden, die unbeschreibbares Leid über die Menschheit gebracht haben. Berlin ist das Stadt gewordene Symbol für deutschen Größenwahn. Berlin war schon als preußische Hauptstadt und später als Hauptstadt des wilhelminischen Reichs, des Nazi-Reichs und des SED-Staates immer Zentrum von Reaktion, Militarismus, Faschismus und Diktatur. Daß West-Berlin seit den sechziger Jahren eine positive Rolle in der demokratischen Entwicklung Westdeutschlands gespielt hat, ist gerade darauf zurückzuführen, daß es nicht mehr Hauptstadt, sondern eine ziemlich absurde Inselstadt war.

Es ist schlimm genug, daß aus dem erfreulichen Hinwegfegen des SED-Regimes dieses unerträgliche Wiedervereinigungstheater geworden ist. (...) Jetzt kommt es darauf an, den Schaden zu begrenzen. Der neue großdeutsche Staat muß geschwächt werden. Die einzige Macht, die dazu eine reale Chance hat, ist der Föderalismus. Eine Hauptstadt Berlin wäre dagegen eine Kampfansage an den Föderalismus. Wir brauchen kein deutsches Paris oder London, keine zentralistische Hauptstadt, sondern eher so etwas wie Canberra oder Ottawa, einen bescheidenen Sitz von Parlament und Regierung.

Bonn hat sich 40 Jahre in dieser Rolle bewährt. Es ist völliger Quatsch, es als Hauptstadt des Kleinbürgertums zu denunzieren. Das „weltoffene“ Berlin der zwanziger Jahre hat die vom Kleinbürgertum getragene Herrschaft des Faschismus gerade nicht verhindern können. Und multikulturell war mensch hierzulande schon vor 2.000 Jahren, als es im heutigen Berlin nicht mal Monokultur gab. (...)

Manfred J.Waddey, Köln