BEWÄHRUNGSUNION

VON MATHIAS BRÖCKERS

Der amtierende Generalstaatsanwalt der DDR hat im Zusammenhang mit den Todesschüssen, sowie den Selbstschußanlagen und Minen an der deustsch-deutschen Grenze Anzeige gegen den früheren Staats- und Parteichef Erich Honecker verfügt. Diese am Freitag ergangene Anzeige wegen Mordverdachts ist sicher nicht die letzte Anklage, die Honecker ins Haus flattern wird. Prüft man die Strafgesetzbücher genau durch, dürfte es kaum einen Paragraphen geben, gegen den der Staatratsvorsitzende nicht verstoßen hat - wenn nicht durch aktive, vorsätzliche Täterschaft, dann durch Unterstützung, Duldung oder Fahrlässigkeit. Es bestünde also durchaus die Möglichkeit, den alten Erich zu, sagen wir, 123 mal lebenslänglich plus 456 Jahren Gefängnis und anschließender Sicherheitsverwahrung zu verurteilen, sowie zu einer saftigen Geldstrafe, die man offenbar schon ins Auge gefaßt hat. (Die 300.000 Mark Privatvermögen Honeckers jedenfalls nach 40 Jahren höherer Beamtenlaufbahn durchaus keine kriminelle Summe - wurden schon vor einigen Wochen konfisziert, damit er sie nur ja nicht in D-Mark umtauschen kann.)

Mit einem derart hyper-drakonischen Strafmaß gegen den König des DDR-Volks könnte 2.000 Jahre danach an biblische Verhältnisse angeknüpft werden: Ein einzelner büßt für alle Sünden, der Staatschef nimmt allein auf sich, was Millionen von Kriechern, Speichelleckern, Opportunisten, Partei -Profiteuren und -Mitläufern den wenigen Oppossitionellen und Flüchtlingen angetan haben. Nur so, scheint es, läßt sich die Sache überhaupt regeln, denn wohin es führt, wenn jeder Polizist, der Richter und alle Staats- und ParteidienerInnen für ihre mehr oder weniger offensichtlichen Taten zur Rechenschaft gezogen würden, liegt auf der Hand: Das Gebiet der DDR wäre ohne sie genauso unregierbar wie das der BRD nach 1945 ohne die Globkes, Kiesingers, Filbingers. Nur weil über Nacht per Persilschein aus einem Volk von Nazis ein Volk von verführten, erniedrigten, beleidigten Demokraten entstand, konnte „Ordnung“ aufrechterhalten werden. Deshalb m u ß aus einem Volk von Stalinisten jetzt über Nacht ein Volk von verführten, erniedrigten und beleidigten Demokraten entstehen. Nach diesem entnazifizierenden St. Floriansprinzip hagelt es ein Sturmgewitter von Anklagen und Anzeigen gegen „die da oben“ und namentlich ihren allerhöchsten Chef. Stellen wir uns vor, Hitler hätte sich nicht die Kugel gegeben, sondern würde als 100jähriger Yeti in einem versteckten Tal des Himalaya gefunden - bei vollem Verstand, körperlich fit und diskussionsbereit. Der Prozeß, der ihm gemacht werden müßte, wiese durchaus Parallelen mit dem Verfahren auf, das Honecker zu gewärtigen hat.

Mit dem zugegeben hinkenden Vergleich will ich auf das Argument der Milde aus Altersgründen hinaus, das angesichts der verzwickten Lage von den Humangeistern der Macht ins Rennen geschickt wird: man solle sich doch jetzt bitte nicht rachelustig an einem alten Mann austoben. Ein Argument von einer Sanftheit, daß es glatt von Weizsäcker persönlich stammen könnte, aber auch von höchster Perfidie. Denn der Nachsatz wird natürlich vergessen: Solange die Berliner Oma, die für ihren Enkel ein Tütchen Heroin aus Holland schmuggelt, vor den Kadi gezerrt wird, solange muß sich der Berliner Opa Erich für jeden Schuß an der Grenze verantworten. ERICH WÄHRT AM LÄNGSTEN