Regie-, Schauspieler- oder Autorentheater?

 ■ Im Rahmen der Wiener Festwochen kam es unter dem Titel

„Zeit/Schnitte“ zu einer Leistungsschau zeitgenössischen theatralischen Schaffens österreichischer Autoren / Anlaß für ein Resümee nebst einem kurzen Rück- und Ausblick auf die Theaterpolitik der Stadt Wien

Von Dieter Brandhauer

Wiens Selbstverständnis als Theaterstadt wurde Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre durch die Dramaturgie der Wiener Festwochen zwar nicht erschüttert, aber doch in dem Sinne korrigiert, daß Theater mehr sein kann als selbstgefällige Traditionspflege.

Gastspiele etwa von Claus Peymanns Stuttgarter bzw. Bochumer Ensemble mit Goethes Faust, Kleists Hermannsschlacht und mehreren Stücken von Thomas Bernhard zeigten, was modernes Theater ist - und schufen Peymann in Wien jenen Anhang, der seine Bestellung im Jahr 1986 zum Burgtheaterdirektor nicht bloß zu einem Gastspiel werden ließ.

An dieser Politik der Wiener Festwochen - vielbeachtete Aufführungen aus der BRD und in den letzten Jahren auch aus der DDR einzuladen - hat sich nichts geändert. Der Unterschied besteht lediglich darin, daß keine neuen Tendenzen mehr vorgeführt werden, sondern mit jedem Gastspiel - sei es von den Münchner Kammerspielen, sei es von der Berliner Schaubühne - nur noch die Bestätigung geliefert wird, daß man mit Peymann den besten oder zumindest einen der besten Theatermacher des deutschen Sprachraums besitzt. So könnte man sagen, daß sich die alte Selbstgefälligkeit - wenn auch auf höherem Niveau - wieder breitgemacht hat.

Drei Aufführungen vom Hamburger Thalia-Theater bei den diesjährigen Festwochen zeigten gutes bis hervorragendes Theater. Ihre wichtigste Funktion aber war es vielleicht, mit dem Thalia-Intendanten Jürgen Flimm dem Wiener Publikum einen möglichen Kandidaten für die in den nächsten Jahren auszuhandelnde Nachfolge Peymanns vorzustellen. Denn die Wiener Kulturpolitik wird gerade anläßlich des Weltausstellungsabenteuers, das 1995 stattfinden soll, bestrebt sein, errungenes Terrain abzusichern und nicht durch weitere Modernisierungsschübe zu gefährden. Auch Jürgen Flimm praktiziert gemäßigtes Regietheater, das sich nicht scheut, den Schauspieler als Star (und Liebling) zu präsentieren. In einem solchen Klima einer etablierten Moderne ist für Autoren wie Bernhard und Handke, Turrini und Bauer Platz, aber von einer Pflege des Autorentheaters kann dabei nicht gesprochen werden. Da aber auch bei den freien Theatergruppen in Wien Aufführungen von Stücken zeitgenössischer österreichischer Autoren eher die Ausnahme darstellen, gibt es bei den Autoren eine Frustration, die so fundamental ist, daß sie bereits gar nicht mehr auffällt.

Dieses Manko wollte Elisabeth Wäger, Dramaturgin der Wiener Festwochen, im gleichen Maße bewußt machen wie beseitigen. Im Rahmen eines von Gastspielen dominierten Festivals wagte man eine Eigenproduktion, die unter dem Titel Zeit/Schnitte einer Reihe von österreichischen Autoren die bezahlte Gelegenheit bot, Stücke für eine Aufführung und nicht für die Schublade zu schreiben.

Doch so redlich dieser Ansatz ist, so problematisch war bereits das dramaturgische Konzept - ganz zu schweigen von den Realisierungen. Anstatt ausschließlich Schriftsteller, die bereits Erfahrungen mit dem Schreiben dramatischer Texte gesammelt hatten, in dieses Projekt einzubinden, glaubte man auch Autoren, deren Arbeiten bisher abseits des Theaterapparates entstanden sind, für dieses Medium gewinnen zu müssen. Begründet wurde dies damit, daß dem Theater innovative Tendenzen nützen - doch daß diese aus der Unkenntnis des Mediums kommen, konnte auch diesmal nicht bestätigt werden.

Kein guter Dienst wurde damit gerade den beiden Frauen unter den „Zeit/Schnitte„-Autoren erwiesen. Als hätte es Elfriede Gerstl, deren Lyrik sich durch Genauigkeit auszeichnet, notwendig, sich dem Vorwurf der Banalität auszusetzen (wie man ihn gegen ihre Emanzipationsrevue, die mit der Gattungsbezeichnung „Textflächen“ übertitelt wurde, erheben muß). Bezahlte Gerstl ihren Ausflug ins dramatische Gebiet wenigstens nicht mit einem frustrierenden Erlebnis mit den Theatermachern (Michaela Scheday setzte die „Textflächen“ ganz unterhaltsam in Szene), war Marie-Therese Kerschbaumer ob der Realisierung ihres lyrischen Stückes Zeit/Fluchten durch Gernot Lechner derartig entsetzt, daß sie nach der Generalprobe die Aufführung verhindern wollte. Der Regisseur konnte sich aber durchsetzen und mit seiner bildbesessenen, theaterfixierten Reise ins Innere des Konzerthauskellers (alle anderen Aufführungen fanden in Taboris Theater „Der Kreis“ statt) demonstrieren, daß Autoren am Theater nie das letzte Wort haben.

Läßt sich bei der Aufführung von Kerschbaumers Zeit/Fluchten davon sprechen, daß die von der Festwochen -Dramaturgie programmierte Theaterferne zum rücksichtslosen Zugriff durch den Regisseur führen mußte, ist es bei Gerhard Jaschkes Immer am Anfang nur noch ärgerlich, daß sein Stück in die Mühlen von Theaterprofis geriet - auch wenn sich der Autor darüber nicht beklagte.

Hierbei scheint ein kleiner Exkurs ins profane Gebiet der Finanzierung dieser Festwochen-Eigenproduktion angebracht. Zirka 300.000 D-Mark standen für die elf Produktionen der Zeit/Schnitte zur Verfügung. Es genügt, eine Milchmädchenrechnung anzustellen - die gar nicht polemisch mit dem gesamten Festwochen-Budget von zehn Millionen D-Mark in Beziehung gesetzt werden muß -, um zu wissen, wie wenig Geld pro Aufführung an die jeweils Beteiligten ausbezahlt werden konnte. Da auch in den neunziger Jahren zuerst das Geld und dann die Kunst kommt, wäre es das gute Recht eines Autors, die Aufforderung, ein Stück zu schreiben, mit dem Griff in die Schublade zu beantworten, um einen Text zutage zu fördern, der lediglich dramaturgisch aufbereitet wird. Das gleiche gute Recht wüßte ein erfahrener Regisseur, der dieses Manöver durchschaut, auf seiner Seite, indem er den Text wieder auf das reduziert, was er war: nämlich Prosa, der eine szenische Lesung gut ansteht.

Dies ist natürlich Hypothese. Tatsache ist, daß Gerhard Jaschke mit seinem aus der Fremde österreichischen Bewußtseins kommenden, eine am Ziel angekommene Poetik subtil unterwandernden Stück, die Entdeckung der Zeit/Schnitte hätte werden können - gleichgültig wie auch immer sein Stück zustande gekommen ist. Werner Stolz aber wollte lieber mit seinem Schauspieler Thomas Stolzeti alleine sein und machte aus einem Drei-Personen-Stück eine theatralische Lesung, die den Verdacht aufkommen läßt, hier wollte jemand den Text partout nicht auswendig lernen.

Die Aufsplitterung des Textes in kleine Einheiten und Nummerierung derselben von 1 bis 24, um einen Tagesablauf zu stilisieren, der sich dreimal wiederholen sollte, spielte vorsätzlich mit der potentiellen Ungeduld eines Publikums, die sich auch prompt einstellte: Beim mitlaufendem Zählwerk kann man irgendwann nicht mehr zuhören, sondern nur noch mitzählen.

Jaschkes Drei-Personen-Drama jedenfalls könnte den Theaterapparat mit einem - im besten Sinn - brauchbaren und abendfüllenden Stück bedienen.

Dies gilt auch für das Stück Nein, diese Aussicht von Werner Herbst, wenn dieses auch auf sehr vordergründige Weise einem weiteren Anspruch der Festwochen-Dramaturgie Rechnung trug: nämlich mit aktuellen Texten zur Zeit, Texten zum Thema: Befinden 1990 einen politischen Beitrag zu leisten.

Ein Anspruch, vor dem sich gerade der Avantgardist der Zeit/Schnitte selbst in Schutz nehmen mußte. Robert Quitta legte Wert darauf, daß sein Spiel im Garten, Dubcek trifft Pu Yi, vor den revolutionären Ereignissen im Osten entstanden ist.

Ansonsten war sein Beitrag ein gutes Beispiel für die willkürliche Bandbreite der Zeit/Schnitte, der er nicht bedurft hätte, um eine neuerliche Variante seiner Prominenten-Auftritte zu liefern. Sein Gipfeltreffen zweier in Ungnade gefallener Politiker ist eine Fortsetzung seiner szenischen Entwürfe Joseph Roth in Paris oder Rimbaud im Bräunungsstudio.

Daß Quitta seine Stücke selbst inszeniert, ist notwendige Konsequenz derselben. Daß Joe Berger, der mit Traumziele tatsächlich einen „Boulevard in einem Akt“ schrieb, sein Stück ebenfalls selbst in Szene setzte, konnte die Geschichte von einem Sandler, der zum Berater einer Freizeitagentur wird, jedoch nicht mehr retten. Von Joe Berger heißt es in der Wiener Szene nicht zu Unrecht, daß er ein Dichter geblieben wäre, wenn er nie geschrieben hätte.

Andreas Okopenkos szenische Begebenheiten Noch ein Sketch! sind literarische Blitzlichter, die dem Theater zwar keine neuen Impulse versetzen werden, aber dem Regisseur Reinhard F. Handl Gelegenheit boten, die wohl perfekteste Aufführung der Zeit/Schnitte zu liefern. Mit Daniela Graf, Svenja Kristina Schreiber, Franz Robert Wagner und Alexander Wächter hatte er auch vier blendend disponierte Schauspieler zur Verfügung.

Die restlichen Aufführungen paßten ebenfalls problemlos ins Konzept, das von Performances über Textflächen und Mikrodramen bis zum - aber nicht als solches bezeichneten Hörspiel reichte und der Belanglosigkeit Tür und Tor öffnete, mit der man sich natürlich geschickt der Verantwortung entziehen kann. Demokratische Kulturpolitik möchte es allen recht machen, indem alle gegeneinander ausgespielt werden. Fürs Theater bedeutet dies, daß keine Stücke produziert wurden, sondern Stückwerk. Jeder bekam sein Teil.

Abgeschlossen wurde die Leistungsschau österreichischer Autoren mit Becketts That Time - Damals. Entsprechend dem dramaturgischen Konzept der Zeit/Schnitte, stets das Gute zu wollen und oft das Falsche zu machen, kam es zu diesem zwischen unfreiwilliger Komik und argloser Frechheit pendelndem Ende. Was nicht die Aufführung betrifft, sondern die Begründung der Festwochen-Dramaturgie, warum in diesem Rahmen Beckett gespielt wird. Dieser ist nämlich „ein konsequenter Vertreter des Autorentheaters, der viele Stücke viele Jahre vor dem Godot-Erfolg unentdeckt verfaßt hatte“. Eigentümlich, wie österreichischen Autoren mit einem der bedeutendsten Schriftsteller unseres Jahrhunderts Hoffnung gemacht wird. Oder vielleicht doch ein Vorwurf?