: „Lenäkär“ schlägt Mythos Milla
■ Ein Spielbericht aus der Washingtoner Kneipe „La Azteka“
Aus Washington Rolf Paasch
John, der Barkeeper im „La Azteka“ an der 17. Straße in Downtown Washington, hatte vor Spielbeginn nur eine Sorge. „Hoffentlich riskieren die englischen Fans beim Spiel gegen Kamerun hier keine schnelle Lippe, sonst geht bei unserem Publikum der ganze Laden zu Bruch.“ Die Bar mit dem einladenden „Soccer„-Schild am Eingang und den rot beleuchteten Paprikaschoten-Lämpchen über der Theke hat auch an diesem Sonntagnachmittag wieder ein kosmopolitisches Fußball-Volk angelockt. Allen voran die Äthiopier, Washingtons besessenste Fußballfans, die den bundesdeutschen Kaiser Franz mindestens ebenso verehren wie weiland den Kaiser der Rastas, Haile Selassie.
In der Ostkurve der Kneipe hocken dagegen die „Hispanics“, die bis zur Partie am nächsten Dienstag, „Maradona gegen Schillaci“, die Underdogs aus Kamerun unterstützen. Dazwischen ein paar versprengte amerikanische College-Kids, deren sportkulturelle Rebellion auf dem Campus darin besteht, Soccer einfach „cool“ zu finden. Richard, der schon seit der ersten Partie des Tages um elf Uhr vor seinen Diät -Pepsis auf dem Barhocker herumhängt, hatte allerdings am Morgen erst einmal aufgeklärt werden müssen, daß hier nicht Ost-, sondern Westdeutschland die Tschechoslowakei aus dem Weltmeisterschaftsrennen warf. Ist aber auch schwierig mit den Grenzen des „Deutschmark Country“ in diesen Tagen.
Henry aus London, der bei der Weltbank als Volkswirt arbeitet, kennt sich da schon besser aus. Er erklärt gerade seiner indischen Freundin, wie sich die jeweiligen Inflationsraten auf das zukünftige Spiel Deutschland England auswirken werden. Aber erst müssen da ja noch die schwarzen Männer aus Afrika aus dem Weg geräumt werden. Kein Problem für unser Team, sagt Allen, der aussieht, als habe sich der junge Christopher Isherwood in die Washingtoner Kneipe verlaufen. Und „by the way“ beruhigt er John, der ihm gerade einen doppelten Whisky rüberschiebt, die häßlichen Engländer, die beim letzten Spiel den Flipper durch eine Zwischenwand der Kneipe geschoben hatten, seien diesmal in der Bar am anderen Ende der Straße: „Down the road und down with Cameroon.“
Und dann um 15 Uhr Ortszeit ist es soweit. Pünktlich mit dem Spielanfang entlädt sich ein mittleres Unwetter über der US-Hauptstadt und läßt die Engländer auf dem spanischen Satelliten-Kanal „Univision“ wie schwarze Schatten über den Bildschirm huschen. Schließlich projizieren Blitz und Donner über der Satellitenschüssel auf dem Dach nur noch dicke Schrägstreifen auf die Mattscheibe. Man ist auf alles vorbereitet, nur nicht auf einen Bildausfall. Allen ist sich sicher, daß wir bereits das erste englische Tor verpaßt haben, und erklärt dem College-Boy Richard gerade, daß Kamerun nie eine britische Kolonie war. Die Äthiopier diskutieren dagegen längst den viel wichtigeren „Ethiopia Cup“, zu dem sich alle äthiopischen Freizeitteams in den USA nächste Woche zum Fußballturnier in Boston treffen.
In der 23. Spielminute ist endlich das Bild wieder da, mit dem von fast allen bejubelten 0:0-Ergebnis. Doch dann sorgt Steve Platt, der so spielt, wie er heißt, mit seinem Zufallskopfball wieder für Verzweiflung im Kneipenrund. Erst der Elfmeter, verwandelt von Kunde, verwirkt an Mythos Milla, dem Mann, den sie auch hier mit dem unglücklichen Namen einer amerikanischen Biermarke „Miller“ nennen, bringt wieder Schwung in die Bude. Nach Ekekes Führungstor überschlagen sich die Stimmen der spanischen Fernsehansager im Falsetto, tanzen unsere drei Kameruner, als spielte King Sunny Ade gleich hinter der Theke. Doch „Lenäkär“ blökt da plötzlich der Ansager, und das Unentschieden ist mit seinem Elfmeter im Kasten.
Vor der Verlängerung stürzt die schwarz-weiße männliche Meute im „La Azteka“ noch schnell auf die Toilette, als gelte es zu beweisen, daß das Über-den-Rand-Pissen eine cross-kulturelle Eigenschaft ist. Doch kaum sind sie zurück, kaum hat Mythos Milla den Ball noch einmal elegant über die so einfalls- wie (bald) kolonielosen Engländer gelupft, Omam -Biyicks Hackentrick aber nicht den Weg in Shiltons Tor gefunden, da tönt wieder jene unheilvolle Lautkombination aus dem spanischen Kommentatorenmund: „Lenäkär“. Erneut Elfmeter. Bei dem Versuch Torwart N'kono vom Elfmeterpunkt aus, mit der Eleganz eines Hooligans in die Eier zu schießen, trifft „Lenäkär“ ins Netz.
Betroffenheit im „La Azteka“ und vorsichtige Freude unter den „Mad Dogs and Englishmen“ im rechten Kneipeneck. „Down the road“, atmet Barkeeper John auf, „wird jetzt die Hölle los sein.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen