Und nun gegen die „Powerkrauts“

■ Die brillanten Kameruner unterlagen England in der Verlängerung 3:2 - Selters besiegte Sekt

Berlin (taz) - Kamerun ist todtraurig. Sollte man meinen. Doch langsam beschleicht einen der Verdacht, daß der Rest der Fußballwelt bei weitem unglücklicher ist als die gegen England ungerecht ausgeschiedenen Kameruner. Fröhlich lachend verabschiedeten sich die „Brasilianer Afrikas“ (Roger Milla) nach der 3:2-Niederlage von den 45.000 Zuschauern in Neapel mit einer Ehrenrunde, woraufhin Millionen von Fernsehzuschauern, die auf sie zukommende Langeweile erahnend, in tiefe Depression verfielen. Zu Recht, denn die Halbfinalpaarungen Argentinien-Italien und England-BRD garantieren artigen Fußball borniertester Prägung. Erste Überlegungen zur Nivellierung der Fußballregeln werden laut, den dieses Spiel bewies, daß vielmehr der Weg das Ziel sein sollte statt schnörkelloses Toreschießen.

Das elegante, ideenreiche Spiel der Afrikaner wirkte gegen den altmodischen Stil der Engländer himmlisch leicht. „Diese Kreativität erinnert an Brasilien in seinen besten Tagen“, sprudelte Brasiliens Pele. Und traf damit den Nagel auf den Kopf. Denn die brasilianische Verspieltheit war schließlich das Verhängnis.

Das Drama begann mit Englands 1:0-Führung durch Grinsemonster Platt. Die gutmütigen Afrikaner gönnten den Erfindern des Fußballs die Freude bis zur Halbzeit. Dann betrat der Chef Roger Milla unter lärmendem Beifall den Rasen. Sogleich rannte er, flink und körpertäuschend, in Richtung englisches Tor und ließ sich kunstvoll von Brecher Gascoigne im Strafraum bremsen: Kunde verwandelte den Foulelfmeter zum Ausgleich. Das gefiel Milla, flugs schnappte er sich den Ball, spurtete erneut los, gab diesmal listigerweise einen Traumpaß zentimetergenau in den Lauf von Ekeke, der in der 64. Minute völlig cool den Ball am Torwart Shilton vorbeischlenzte zur 2:1-Führung.

Weltweit entkrampften sich die Nackenpartien der Afrika -Fans, Kamerun wurde als BRD-Gegner begrüßt und schon als einzig denkbarer Sieger des Halbfinales gefeiert. Die lockere Stimmung überfiel auch die Spieler, die nun ein wenig Späßchen machen wollten. Hin und her spielten sie im Strafraum, foppten die Briten mit hundertprozentigen Torchancen, ließen diese jedoch aus unbekannten Gründen ungenutzt. Besonders Makanaky, im Mittelfeld begnadet, konnte sich ein ums andere Mal in aussichtsreicher Position unspektakulär des Balles entledigen.

Der Spaß hatte schlagartig ein Ende, als Massing zu einem Konter ansetzte, gelegt wurde und einen Foulelfmeter erzwang. Der wiederauferstandene englische Torjäger Gary Lineker verwandelte und rettete sein Team in die Verlängerung. Ebenfalls ein Foulelfmeter von Lineker, der zuvor von Kameruns Torhüter Nkone gestoppt worden war, war es dann, der Englands 3:2-Sieg besiegelte.

Der sowjetische Trainer Kameruns, Waleri Nepomniaschi, war stumm vor Enttäuschung. Sein erleichterter Kollege Bobby Robson krähte: “...wir waren quasi schon am Ende, aber wir haben Glück gehabt. Kamerun ist groß.“ Milla, der sich in der Schlußphase noch mit Gynäkologe und Schiedsrichter Codesal (Mexika) anlegte, beruhigte sich schnell und ließ sich feiern. „Wir sind stolz“, erklärte der wunderbare Verlierer, „wir haben das Niveau afrikanischen Fußballs gezeigt. Das ist erst der Anfang einer großen Zukunft.“

Völlig unverständlich hingegen seine Einschätzung der Niederlage: „Es war offenbar Schicksal, daß es so enden würde. Im Halbfinale spielen Teams, die mehr Möglichkeiten haben als Kamerun. Im übrigen: Ich denke, es war auch eine Machtfrage. Wir wissen sehr wohl, daß uns ein weiterer Sieg hier nicht zustand.“ Näher erklären wollte er diese Geheimnistuerei jedoch nicht: „Meine Frau hat schon kritisiert, daß ich hier in den Interviews doppelt soviel rede wie zu Hause.“ Heftig gefeiert wurde auch in England. Die Hausfrauen stellten gar das heilige Bingo-Spiel ein. Als um 23 Uhr die Pubs den Alkoholausschank einstellten, rasteten 2.000 Fans aus und plünderten Spirituosenläden. Tags drauf schienen nur noch die Journalisten vom 'Daily Star‘ betrunken: „Jetzt gegen die Powerkrauts mit dem Magic Man Matthäus.“ Am Mittwoch kommt es zur Neuauflage des spektakulären WM-Finales von 1966: 24 Jahre nach dem Titelgewinn von London - 4:2 n.V. im Wembley-Stadion - steht England erstmals wieder in einem WM-Halbfinale.

miß

Kamerun: Nkono - Kunde - Pagal, Ebwelle - Tataw, Mabdan Kessack (46. Milla), Massing, Libiih, Mfede (62. Ekeke) Makanaky, Oman Biyik

England: Shilton - Wright - Parker, Walker, Butcher (75. Steven), Pearce - Waddle, Platt, Gascoigne, Barnes (46. Beardsley) - Lineker

Zuschauer: 45.000

Tore: 0:1 Platt (25.), 1:1 Kunde (62./Foulelfmeter), 2:1 Ekeke (64.), 2:2 Lineker (85./Foulelfmeter), 2:3 Lineker (105./Foulelfmeter)