Ach Kamerun!

■ Die Fußball-Weltmeisterschaft erlebte ihren Höhepunkt

Zu wahrer Schönheit gehört auch ein wenig Trauer. In diesem Sinn war das Kamerun-Spiel im dramatischsten aller WM -Viertelfinale wunderschön. Ein hinreißender, trauriger Fußballabend, wie man ihn nur alle paar Jahre einmal erlebt und von dem man noch lange schwärmen wird. Das beste WM -Spiel des Turnieres. Kein Fußballherz, das an diesem Abend nicht für Milla und Co geschlagen hätte. Und längst war dies keine Begeisterung mehr darüber, daß die Afrikaner Anschluß gefunden haben an die Großen des Fußballs. Es ist eher umgekehrt: Die „Großen“ werden sich strecken müssen, um jemals so zu spielen wie Kamerun. Und viele werden es niemals schaffen. Es war nicht das gnädige Lächeln über einen Zwerg, der über sich hinauswächst, sondern das erstaunte Registrieren, daß hier wirklich eine Spitzenmannschaft auf dem Rasen steht, die einen Fußball spielt, wie man ihn in seiner Geschmeidigkeit und tänzerischen Eleganz bis dato nicht gesehen hat und - sind wir ehrlich - wie ihn den Afrikanern niemand zugetraut hätte. Denn trotz des Gruppensieges galt Kamerun noch immer als die große Überraschungsmannschaft der WM. Aber die einzige Überraschung (und Enttäuschung) des Sonntagabends war, daß England am Ende gegen diese großartigen Ballkünstler doch noch gewonnen hat.

Pele irrt sich, wenn er sagt, Kamerun habe brasilianisch gespielt. Sie haben kamerunisch gespielt, einen wirklich eigenständigen und einmaligen Fußball. In diesem Spielsystem wird der Hackentrick nicht beim Stand von 6:0 als entzückende Dreingabe für die Galerie eingestreut, er gehört zur originären Fußballkultur, zum Alltagsrepertoire, das in die Fußballbeine eingebaut ist wie die Grätsche bei Jürgen Kohler. Man stelle sich einen deutschen oder britischen Spieler vor, der in einem WM-Viertelfinale kurz vor dem Abpfiff beim Torschuß einen Hackentrick „probiert“. Des Kaisers Herztod wäre gewiß. Bei Kamerun war Oman Biyiks „Ferseln“ selbstverständlich, so naheliegend wie der Billard -Kunststoß, mit dem Roger Milla dem Ball Unterschnitt gab, um ihn über den heranstürmenden englischen Verteidiger steigen zu lassen. Großartig! Keine Mätzchen, sondern Handwerkszeug. Kamerunisch eben.

Und jetzt? Wieder Fußball normal bei Westdeutschland -England mit dem Übersteiger und Doppelpaß als technischem Gipfel? Kampf statt Kunst? Getrete und 0:0 bei Argentinien -Italien? Vielleicht kann die Inspiration des Kamerun -Spieles ja auch diese Mannschaften ein wenig beflügeln. In diesem Sinne dauert ein Spiel eben nicht nur 90 Minuten, sondern vermag Fußballgeschichte zu schreiben. Noch 3.469 Tage bis zum Jahr 2000. Ein Stück Fußball des Jahres 2000 haben wir am Sonntag schon mal gesehen.

Manfred Kriener