Polens Minister Kiszczak geht's an den Kragen

■ Oberster Rechnungshof veröffentlicht vernichtenden Bericht über Privilegienwirtschaft und Amtsmißbrauch / Parlamentarische Untersuchungskommission deckt Morde aus dem Kriegszustand auf / Forderung nach Kabinettsumbildung wird immer lauter

Aus Warschau Klaus Bachmann

Grzegorz Przemyk wurde am Abend des 12.Mai 1984 von Polizisten der Wache „Jezuistenstraße“ in der Warschauer Altstadt festgenommen, als er gerade von einer Examensfeier mit Kollegen kam. Zwei Tage später starb er auf dem Operationstisch der Intensivstation, gestorben an den Verletzungen, die er sich auf der Polizeiwache Jesuitenstraße zugezogen hatte. Wenige Monate später fällte ein Warschauer Gericht das Urteil: Doch nicht etwa die prügelnden Polizisten wurden belangt und verurteilt, sondern ausgerechnet jene beiden Sanitäter, die Grzegorz von der Polizeiwache ins Krankenhaus gefahren hatten, kamen wegen „brutaler Behandlung des Patienten“ für zwei bzw. zweieinhalb Jahre hinter Gitter.

Der Fall Grzegorz Przemyk, der damals Polens Öffentlichkeit aufwühlte und gewissermaßen das Vorspiel zur Ermordung des oppositionellen Priesters Popieluszko durch Geheimpolizisten bildete, steht nun endlich ebenfalls vor der Aufklärung. So sind nun plötzlich Akten aufgetaucht - Akten, von denen das Innenministerium stets behauptet hatte, sie hätten niemals existiert -, die als interne Untersuchungsprotokolle Aufschluß über die Vorgänge an jenem 12. Mai 1984 in der Jesuitenwache geben können.

Der zuständige Generalstaatsanwalt hat inzwischen bei Gericht einen Antrag auf Wiederaufnahme der Untersuchung gestellt, der in Kürze beschieden wird. Und das mit ziemlicher Sicherheit positiv, zumal sich indessen auch mehrere Ohrenzeugen gefunden haben, die vor der Wache die Schreie des gefolterten Grzegorz gehört haben wollen. Auch haben Polizisten inzwischen ausgesagt, wie sie zu ihren Zeugenaussagen vor Gericht 1984 „von oben instruiert“ worden seien.

Überrascht hat das in Polen kaum jemand, seit bei den Arbeiten der Parlamentarischen Untersuchungskommission, die sich unter dem Vorsitz des früheren Krakauer Bürgerrechtlers und Anwalts Jan Maria Rokita mit den unaufgeklärten Todesfällen der Jahre 1981-89 beschäftigt, herauskam, was Bürgerrechtler seit jeher vermuten. Fast in allen untersuchten Fällen kam die Kommission zu dem Schluß, daß die „unbekannten Täter“, die in jenen Jahren Bürgerrechtler, Gewerkschafter, Intellektuelle und überhaupt Andersdenke und Demonstranten ermordeten, aus den Reihen der Geheimpolizei kamen. Ermittlungen wurden verschleppt, Beweise nicht gewürdigt, Zeugen eingeschüchtert oder gar nicht erst verhört, bis in die jüngste Gegenwart hinein.

So hat inzwischen das Justizministerium, dem nun die Staatsanwälte unterstehen, die Ermittlungen im Fall des vor zwei Jahren an der Ostseeküste ermordeten Priesters Zych an sich gezogen, weil sie von der örtlichen Staatsanwaltschaft nicht mit der notwendigen Sorgfalt durchgeführt worden waren. Wiederaufgenommen werden auch die Ermittlungen im Fall des Krakauer Arbeiters Bogdan Wlosik, der bei einer Demonstration in Nowa Huta 1982 von einem Geheimpolizisten erschossen worden war. Damals wurde das Verfahren von der Militärstaatsanwaltschaft eingestellt. Begründung: Notwehr. Ermittelt wird nun auch im Fall des Priester Chojnacki, nachdem Anfang des Jahres ein Mitarbeiter der Geheimpolizei Mordpläne seiner Behörde gegen den Priester an die Öffentlichkeit gebracht hatte.

Die politische Verantwortung für diese und noch zahlreiche weitere Verbrechen liegt bei Innenminister Kiszczak, der sich dazu schon seit geraumer Zeit nicht mehr zu Wort gemeldet hat. Zuletzt sind einige seiner unmittelbaren Untergebenen, Vizeminister General Dankowski, zwei ehemalige Departmentsdirektoren und der Ex-PVAP-Abgeordnete Jerzy Karpacz, der bis November letzten Jahres Chef der Geheimpolizei war, ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Sie sollen, so ermittelte der neue, von Premier Mazowiecki eingesetzte Chef des Staatsschutzamtes, der Stettiner Bürgerrechtler Andrzej Milczanowski, die Anweisung zu umfangreichen Aktenvernichtungen gegeben haben. Die dabei vernichteten Akten hätten vor allem Informationen über die Tätigkeit der Polizeibehörden gegen Solidarnosc und die katholische Kirche enthalten. Inzwischen wird gegen die vier Aktenvernichter ermittelt, nur Karpacz ist dabei durch seine Abgeordnetenimmunität geschützt.

Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, daß die Forderung nach einer Kabinettsumbildung in Polen immer lauter wird. Daß der politische Hauptverantwortliche General Kiszczak immer noch Innenminister ist, ist eine Tatsache, die die Regierung um so weniger vor der Öffentlichkeit verteidigen kann, als immer neue haarsträubende Details seiner Amtsführung ans Tageslicht kommen.

So zitiert nun die 'Gazeta Wyborcza‘ ausführlich aus einem Bericht des Obersten Rechnungshofs, der sich das Finanzgebaren des Innenministeriums vorgenommen hat. Danach verfügte das Innenministerium über spezielle Luxusgeschäfte, in denen neben Regierungsmitgliedern auch Parteibonzen Importwaren zu künstlich niedrig gehaltenen Preisen und sogar auf Kredit erwerben konnten. Zwei Mitglieder des Politbüros der inzwischen aufgelösten Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) haben demnach ihre Schulden bis heute noch nicht beglichen. Mitarbeiter des Ministeriums konnten von diesem Schreibmaschinen für 10.000 Zloty (nach heutigem Kurs ca. zwei DM) und Farbfernseher für 6.000 Zloty (1,20 DM) erwerben, sie kosten heute jeweils 800.000 Zloty (150 DM) und sechs Millionen Zloty (ca. 2.000 DM).

Für wohlhabende Ausländer betrieb das Innenministerium an den zuständigen Behörden vorbei Treibjagden, der Erlös daraus floß in schwarze Kassen, Devisen fanden sich dafür in ungenehmigten Subkonten polnischer Botschaften im Westen, die für „gepanzerte Dienstfahrzeuge“ bestimmt waren, über die aber nur der Chef des Staatsschutzes verfügte, auch dann noch, als er längst von seinem Posten abberufen worden war.

Schon Anfang des Jahres hatte sich der Rechnungshof an General Kiszczak gewandt und eine Stellungnahme zu den Vorwürfen, besonders auch gegen den schwer belasteten General Stanislaw Konieczny, gefordert. Bisher einzige Reaktion laut 'Gazeta Wyborcza‘: Konieczny ging im Frühjahr 1990 in allen Ehren in den Ruhestand.