Mit Rot-Grün zurück zur Schule der Sechziger?

■ Warnstreik von Lehrern und Schülern gegen das Rotstift-Programm des Westberliner Senats / Die Schulklassen sollen aus Finanzmangel wieder zu „Sardinenbüchsen“ werden / Senatorin Volkholz im Dilemma: Strafe für streikende Beamte

West-Berlin. Nach der vierten Unterrichtsstunde fiel gestern an den meisten Westberliner Schulen den Lehrern die Kreide aus der Hand, die Schüler schraubten zufrieden ihre Füllfederhalter zu, und gemeinsam ging es zum Schöneberger Wartburgplatz. Der sah 12 Uhr mittags aus wie ein besetzter Schulhof. Viertausend Schüler, Eltern und Lehrer brachten auf unzähligen Transparenten und Plakaten ihre Unzufriedenheit mit der rot-grünen Schulpolitik zum Ausdruck. Es gibt zu viele Schüler, zu wenig Lehrer und nicht ausreichend Räume. Für das nächste Jahr werden 440 Lehrer gebraucht, der Senat hat aber nur 220 Stellen genehmigt. Die statistische Durchschnittsfrequenz einer Klasse soll von 24,5 auf 25,5 Schüler erhöht werden. Das klingt wenig, hat aber nichts zu sagen. Fast jeder angesprochene Schüler benannte seine augenblickliche Klassenstärke mit mehr als dem Durchschnitt. Mit 28 Schülern in einer Klasse wäre man wieder da, wo man schon glaubte, niemals wieder hinzukommen: „Vorwärts in die sechziger Jahre“, drohte ein Plakat. Der Senat hält dagegen, daß die Stundentafelkürzung die ab 1.September 1990 den 5. und 6. Klassen jeweils eine Stunde weniger Geschichte, Biologie, Erdkunde und Technik einbrockt, dem Lehrer mehr Zeit zum Umgang mit den größeren Klassen läßt. „Der blanke Hohn“, meint Erhard Laube, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). „Das ganze Konzept ist ohne jede pädagogische Vordiskussion entstanden“, schimpft er. Die streikenden Lehrer sehen das genauso. Allerdings verstößt ihre Arbeitsniederlegung gegen das Beamtenrecht, teilte die Schulsenatorin Sybille Volkholz schon vor ein paar Tagen der GEW mit. Volkholz, die nach dem Lehrerstreik gegen die Nato -Nachrüstung 1983 selbst deswegen bestraft wurde, zieht sich nunmehr auf die geltende Rechtslage zurück, an die sie als Senatorin gebunden ist. Ihre Exgegnerin und Amtsvorgängerin Hanna Laurien wird sich ins Fäustchen lachen. Wenn die zuerst zuständigen Bezirke disziplinarisch gegen die einzelnen Lehrer vorgingen und sie dagegen Berufung einlegten, wäre die Schulsenatorin gefordert. Ihr Pressesprecher Woll läßt an der Gesetzestreue seiner Chefin keinen Zweifel. Immerhin kann er sich vorstellen, daß die kleinste Strafe, eine Mißbilligung, schon ausreichen würde.

Die Forderung nach mehr Lehrern und damit kleineren Klassen scheiterte bis heute am nicht vorhandenen Geld. Die deutsche Einheit schlägt ein 750-Millionen-Loch in Berlins Finanztopf, und das bedeutet Opfer auf allen Seiten, argumentiert der Senat. Dies mag zwar stimmen, löst die Probleme aber nicht: Mit 28.000 zusätzlichen Schülern in den nächsten vier Jahren wird schon jetzt gerechnet. Wahrscheinlich werden es noch mehr. Damit aber werden die Klassen zu „Sardinenbüchsen“, meinen die Eltern und Lehrer. Daß das Geld sowieso in Berlin nicht aufzutreiben ist, veranlaßte die Betroffenen, einen Brief an Finanzminister Waigel zu schicken, in dem sie die drohende Misere schildern und um zusätzliche Mittel bitten. Wo er die abholen soll, war allgemeiner Konsens: Der Verteidigungsminister soll seinen Laden dichtmachen und die Rüstungsmärker endlich sinnvoll anlegen. Zunehmend, das wurde auch gestern deutlich, zeigt es sich, daß in Ost-Berlin dieselben Probleme auf ihre Lösung warten. Dort hat der zuständige Bildungsminister schon eine Erhöhung der Pflichtstunden für Lehrer auf 28 Stunden verkündet und eine durchschnittliche Klassenstärke von 30 Schülern angemeldet. Das aber würde die Qualität des Unterrichtes derart beeinträchtigen, daß Groß -Berlin eine düstere Zukunft droht: „Mit dieser Bildung könnte ich kein Regierender Bürgermeister werden“, schrieb ein Schüler auf sein Plakat.

Torsten Preuß