Sowjetwirtschaft im freien Fall

■ Desintegrationserscheinungen in der Sowjetwirtschaft / Die Situation im Land ist explosiv und die Abgeordneten fahren in den Urlaub Nach siebzig Jahren Kommandowirtschaft fällt die Umgestaltung schwer / Hat sich Gorbatschow zwischen alle Stühle gesetzt?

Von Klaus-Helge Donath

Adam Smiths Welt der Finanzen“ wird eine Fernsehshow heißen, die ab September wöchentlich vom sowjetischen Staatsfernsehen zur besten Sendezeit zwischen 19 und 21 Uhr ausgestrahlt werden soll. Dort können sich die Zuschauer mit den Großen des Business bekanntmachen, eine populäre Aufbereitung westlicher Aktienmärkte verdauen, sogar einen Voyeursblick auf den „Reichtum der Nationen“ werfen oder die Errungenschaften neuer Spitzentechnologien bestaunen. Das ganze garniert mit Werbespots amerikanischer Firmen, die in der Sowjetunion tätig sind. So jedenfalls planen es die Initiatoren dieses sowjetisch-amerikanischen Joint -Ventures.

Die Unternehmung ist gleich in mehrerer Hinsicht paradox: die Versuche, die Sowjetunion in eine Marktwirtschaft zu transformieren, sind kurz nach ihrem lautstarken Auftakt schon wieder ins Stocken geraten. Dringend notwendige Reformen wurden erneut verschoben, weil die unbekannten Variablen dieses Mammutprojektes die politischen Protagonisten leicht Kopf und Kragen kosten könnte. So sind denn die Deputierten vor dem Beschluß über die längst überfällige Brotpreiserhöhung, die alles andere als eine tiefgreifende Reformmaßnahme darstellt, ersteinmal in den Urlaub gefahren. Darüber soll im September diskutiert werden. Doch dann kann es schon zu spät sein. Denn die Stimmung an der Basis ist höchst explosiv. Paradoxe Züge tragen auch die Modalitäten dieses amerikanisch-sowjetischen „Geschäftes“. Kein Dollar oder Valuta-Rubel wird dabei den Besitzer wechseln. Alle Transaktionen beruhen auf dem Prinzip des Tauschhandels. Die Ware-Geld-Beziehung ist eliminiert- und das bei einer Sendung, die den Namen Adam Smiths trägt!

Tauschhandel und Protektionismus

Zugleich illustriert dieses Beispiel sehr gut den Zustand der Sowjetgesellschaft im Sommer 1990. „Radikalismus“ der Medien und Wirklichkeit fallen weit auseinander. Güterknappheit und galoppierende Inflation haben die UdSSR in die Zeiten vorindustriellen Tauschhandels zurückkatapultiert. Nur derjenige, der neben Marlboro oder Valuta etwas in der Hand hat - vom Fleisch bis zum Computer kann darauf hoffen, sein gewünschtes Äquivalent auch wirklich zu erhalten.

Tauschgeschäfte gehörten andererseits schon immer zum Alltag defizitgeprüfter Planwirtschaft, doch während sie bisher eine typische Erfahrung der Konsumenten waren, greifen sie heute auch im Verkehr zwischen den einzelnen Wirtschaftseinheiten um sich. Die Betriebe sehen nicht mehr ein, warum sie ihre Produkte gegen Rubel verkaufen sollten, weil die Ungewißheit zu groß ist, ob sich dafür noch die gewünschte Ware finden läßt. So wird getauscht, obwohl die Transaktionskosten riesig sind. Liegen Betriebe weit voneinander entfernt, muß auch die Transportfirma noch am Tausch beteiligt werden. Unter diesen Bedingungen erweist sich die alte verfemte Kommandowirtschaft allemal noch effizienter als der umständliche Tauschhandel. Und der ins Stocken geratene Warenverkehr verstärkt seinerseits wiederum die Autarkiebestrebungen ganzer Gebiete und Republiken, die ohnehin schon aus nationalen Motiven auf Sezessionskurs sind. Die meisten Republiken wollen für ihre Güter Weltmarktpreise verlangen, fordern aber für ihre Importe die bisherigen sowjetischen Konditionen. Am stärksten grassiert dieser Protektionismus in den Gebieten Zentralasiens. Usbekistan und Tadschikistan haben für die Ausfuhr vieler Güterin die UdSSR bereits einen „Exportstop“ verfügt.

Aber selbst auf regionaler Ebene werden protektionistische Maßnahmen ergriffen. Ausgerechnet der neue reformeifrige Stadtsowjet Moskaus verfügte im Juni einen „Einkaufstop“ für die Bewohner der umliegenden Gebiete. Die stornierten im Gegenzug dringend benötigte Lieferungen. Und der neue Präsident der Russischen Föderation, Boris Jelzin, ließ von seinen Ökonomen ein Programm ausarbeiten, das darauf zielt, die Macht unter ministerieller Aufsicht stehender Betriebe zu brechen und so etwas wie eine zweite Währung einzuführen. Dahinter steckt die Überlegung, daß eine neue stabilere Währung, die alten Institutionen aus dem Wirtschaftsgefüge auf sanfte Art ausschalten könnte. Außerdem kündigte er an, die Subventionen der RSFSR an die anderen Republiken zu streichen.

Reformer ohne Gefühl für das „Timing“

Alles deutet zur Zeit jedoch noch auf eine Ausweitung des Tauschhandels hin, der den Zerfall des Vielvölkerstaates weiter vorantreibt. Die Strukturen des alten Kommandoprinzips sind zerstört, ohne das etwas Funktionsfähiges an seine Stelle getreten wäre. Auch wenn vom Obersten Sowjet in Moskau neue lobenswerte Gesetze zur Besteuerung oder zum Unternehmensrecht verabschiedet werden, sie finden in den Republiken oder den Rayonsowjets kaum Beachtung. Das kürzlich verabschiedete Gesetz zur Neuregelung des Verhältnisses zwischen Union und Republiken räumt letzteren und lokalen Institutionen größere Freiheiten ein. Es hat nur einen Nachteil: noch besitzt es keinen verfassungsrechtlich bindenden Charakter. Erst Ende des Jahres soll der neue Entwurf fertig sein. Aber schon jetzt sehen viele Republiken die Verfassung als nicht mehr bindend an.

In dieser gesetzgeberischen Schwerfälligkeit offenbart sich ein Kardinalfehler, der sich auch in den Wirtschaftsmaßnahmen wiederholt. Die sowjetischen Politiker scheinen keinen Sinn fürs Timing zu haben. Gesetze werden erst dann implementiert, wenn sie „fertig“ sind und nicht wenn es politisch geboten ist. Ganz abgesehen davon, daß sie dann ohnehin nicht umgesetzt werden.

Eine Hauptschuld an der desolaten Lage des Landes tragen die Wortführer der Perestroika selber. Sie wollten die Strukturen der administrativen Kommandowirtschaft eigentlich nur „liften“ - auch dann noch, als schon klar war, daß sich dieses System von innen heraus nicht mehr umbauen läßt. Wie soll man Bürokraten, die sich auf ihre Verteilungsprivilegien stützen und für die die Wirtschaft ein Planspiel mit fiktiven Größen ist, klar machen, daß Preise eben mehr sind als buchhalterische Manipulationen?

In den reformerischen Maßnahmen war von Anfang an „der Wurm drin“. Der erste Akt, die Anti-Alkoholkampagne, versuchte noch, die Arbeiter durch moralische Appelle zur gewissenhafteren Arbeit zu motivieren. Das verschlechterte nicht nur die Stimmung, sondern riß auch ein Riesenloch in den Staatshaushalt: plötzlich fehlten zehn Milliarden Rubel. Auf der anderen Seite steigerte sich dadurch die Nachfrage, der aber keine realen Werte gegenüberstanden. Folglich erhöhte sich der Inflationsdruck. 1986 gab es eine Investitionswelle in industrielle und öffentliche Bauten (von denen heute die Hälfte als Bauruinen herumstehen). Das brachte noch einmal 60 Milliarden unter die Leute. Die (als Sparmaßnahmen) schlagartig verfügten Importbeschränkungen kurbelten zudem die Inflationsspirale noch weiter an.

Hausgemachte Probleme, halbherzige Maßnahmen

Makroökonomische Faktoren wurden einfach nicht berücksichtigt und entscheidende Eingriffe in die Strukturen nicht vorgenommen. Und dafür sind nicht Apparat und Bürokratie allein verantwortlich, sondern auch die Ökonomen, die mit viel Verve an die „Umgestaltung“ herangingen, allerdings über keine Erfahrungen verfügten. Die Kontrolle des KGB wurde gelockert und Betriebsbelegschaften erhielten die Freiheit, ihre Direktoren selbst zu wählen. Republiken und Unternehmen sollten nach dem Rentabilitätsprinzip eigenverantwortlich wirtschaften. Doch nach 70 Jahren rigiden Dirigismus- schlugen sich die Lockerungen nicht in erhöhter Arbeitsbereitschaft oder Verantwortlichkeit nieder, sondern führten zu einem Produktionsrückgang, der die Preisspirale um ein weiteres hochtrieb. Und die neuen Kooperativen, ein erster Eingriff in die Eigentumsformen und insofern eine Strukturänderung, reduzierten auch nicht den Nachfragedruck auf die Staatswirtschaft. Denn die meisten dieser Betriebe produzieren nicht, sondern wirken lediglich in der Zirkulationssphäre. Das ist ein Faktor, der schon jetzt ohne staatliche Eingriffe eine Verschiebung des Preisgefüges nach sich gezogen hat - mit dem Ergebnis, daß sich die sozialen Gegensätze zunehmend verschärfen und die Kooperativen allgemein zu Negativbeispielen der Marktwirtschaft hochstilisiert werden.

Mit einem Wort, die Probleme vor denen die Regierung steht, sind hausgemacht. Als sie Ende 1989 merkte, daß nur noch ein Neubau statt eines Umbaus der Wirtschaft das Riesenreich retten konnte, war es zu spät. Der moralische Kredit, den sich Gorbatschow durch seine Glasnost-Politik erwirtschaftet hatte, war schon wieder fast dahin. Auf uneingeschränkten Rückhalt in der Bevölkerung konnte sich Gorbatschow nicht mehr stützen. Außerdem waren Kräfte auf den Plan getreten, die er selbst gerufen hatte: In Gestalt der freigewählten Deputierten des Obersten Sowjets und der anderen legislativen Organe. 1989 gelang es ihm nicht einmal, eine Preiserhöhung für Bier und Zigaretten im Obersten Sowjet durchzudrücken. Früher hatten die Technokraten allerlei blockiert und zu Fall gebracht; diese Rolle übernahmen nun die populistischen Volksvertreter. Ungeachtet des defizitären Haushaltes bewilligte der neue Oberste Sowjet ein Sozialpaket, das um 16 Milliarden höher lag als der vorgesehene Betrag. Dem Druck von unten wurde widerstandslos nachgegeben.

Aber im Produktionsbereich tat sich nichts, nur die Notenpresse lief auf Hochtouren.

Strukturveränderungen sind unpopulär

Als Ryschkow im Frühling einen Neuaufguß seines Reformpaketes vorstellte, dessen Kernelement in der Preiskorrektur für subventionierte Waren des Grundbedarfs bestand, überzog eine Welle des Protestes das Land. Eisenbahner, Metaller und Grubenarbeiter der jungen unabhängigen Gewerkschaften sprachen Ryschkow ihr Mißtrauen aus und drohten für den Sommer Streiks an, sekundiert vom Obersten Sowjet, der die Preiserhöhungen auch nicht mittragen wollte. Abgesehen davon, daß eine bloße Preispolitik der sowjetischen Wirtschaft nichts nützen würde, da die Monopolstrukturen der staatlichen Betriebe weiterhin erhalten bleiben, zeigte sich hier doch die Angst der Regierung, unpopuläre Maßnahmen zu treffen. Heute würde sie das nicht mehr überstehen. Daher sind auch Hoffnungen unbegründet, ausgestattet mit seiner Macht als Präsident könne Gorbatschow am Parlament vorbei notwendige Strukturveränderungen vornehmen.

Gorbatschow hat einen Fehler gemacht, der einem Reformer nicht unterlaufen darf: fast gleichzeitig hat er alle gesellschaftlich relevanten und zudem konservativen Kräfte gegen sich aufgebracht. Parteifunktionäre setzte er Wahlen aus und strapazierte sie mit neuen Forderungen, den Militärs kürzte er das Budget und trieb viele in die soziale Unsicherheit. Managern hielt er vor, statt zu verteilen, müßten sie jetzt selbst etwas verdienen. Den Arbeitern verordnete er weniger Alkohol und härtere Arbeit, ohne ihnen einen Ausgleich anbieten zu können, abgesehen von wertlosen Lohnerhöhungen. Regierungsbeamten schrieb er ins Stammbuch, sie sollten sich gefälligst angesichts erforderlicher Einsparungen nach einem neuen Job umsehen. Die „fortschrittlich“ gesonnenen Kreise verprellte er durch sein Zögern, sich von den konservativen Segmenten in der Partei endgültig zu trennen. Stattdessen versuchte er den Konservativen einen Lenin unterzuschieben, der auf einmal zu einem Sozialdemokraten mutiert war.

Gorbatschow kämpft an vielen Fronten

Es wäre falsch anzunehmen, Gorbatschow habe seine Position geändert. Er selbst ist ein Mann des Zentrums geblieben, nur ist die Mitte zusammengeschrumpft und die Welt um ihn herum hat sich gewandelt. Die Konservativen, die eine Weile lang die Luft angehalten hatten, sind zurück in der politischen Arena. Sie haben sogar ihre Interessengegensätze Überwunden, um sich neu formieren zu können. Nun sagen sie dem Präsidenten offen den Kampf an. Was bisher verdeckt geschah, werden sie jetzt in aller Öffentlichkeit tun: Sabotieren, wenn Partei und Apparat noch weiter in ihren Rechten beschnitten werden. Auch wenn sich das politische Bewußtsein in weiten Teilen der Bevölkerung verändert hat und das Maß an politischen Freiheiten sich nicht mehr auf den status quo ante reduzieren läßt, so bleibt doch offen, ob nicht in ungewollte, aber zwangsläufige Interessenüberschneidungen eine massive Desintegration zur Folge haben werden. Große Teile der Arbeiterschaft sind desillusioniert - das ist Wasser auf die Mühlen der Konservativen. Ob Soziologen, Ökonomen oder Politologen der renommiertesten Moskauer Hochschulen, sie alle sprechen von einem hochexplosiven Gemisch, das jeden Moment hochgehen kann.

Angesichts dieser Prognosen klingt es schon fast wie ein Fall von Realitätsverlust, wenn der radikale ökonomische Berater Gorbatschows, Nikolai Petrakow, erklärt: „Die Marktstruktur muß heute entwickelt werden. Ein Maßnahmenpaket dafür ist fertig. Bis Ende 1990 wird es möglich sein, 2200 große Unternehmen in Aktiengesellschaften zu überführen, das sind 70 Prozent industrieller Aktiva“. Im gleichen Interview stellt er allerdings auch die Frage, was Aktien eigentlich sein werden und ob sie nur an die Arbeiter ausgegeben würden. Diese Fragen sind bisher nicht geklärt, doch darin liegt das entscheidende Moment, denn Aktien alleine brechen nicht die verkrusteten Strukturen der Monopolwirtschaft auf. Sie wechselt nur ihre Besitzer und nicht einmal unbedingt die, wie das Beispiel Polen gezeigt hat.

Noch hat der homo sovieticus sich nicht so grundlegend geändert, als daß ihm das Wort Konkurrenz keinen Schauder mehr über den Rücken jagte. Viele bleiben lieber bei ihrer gewohnten Sicherheit, stehen Stunden ergebnislos in der Schlange, schimpfen über die unverschämten Preise der Schwarzhändler, aber zahlen trotzdem. Denn so war es immer, und das ist schließlich auch ein Wert. Der Sozialökonom Golik von der Akademie der Wissenschaften beschreibt seinen Eindruck von der aktuellen Situation so: „Es ist der passive, aggressive, in normalen Lebenssituation eher Fehler vermeidende Typus, der zur Zeit ungeahnte Aktivitäten entwickelt“. Der homo sovieticus fürchtet offenbar die Berührung der „invisible hand“.